Im Gedächtnis riss der Horrorfilm über die Misshandlungen im Kinderheim

Von Hannes Fehringer   29.Jänner 2014

Im Niemandsland zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Österreich ging 1986 eine alte Frau einem wildfremden Mann in den besten Jahren entgegen. Wiedersehensfreude zwischen dem Sohn und der Mutter nach 40 Jahren keimte nicht auf, die Familienbande lösten sich schnell wieder auf.

Die Hartnäckigkeit des Kopiergeschäftsbetreibers Werner Fermer aus Trier bewirkte überhaupt erst die Begegnung. Sein Lebensgefährte Jenö Molnar jobbte als Tagelöhner, als Fermer beim Aufräumen in der Wohnung auf dessen Geburtsurkunde stieß. Dort stand der Name der Mutter Elisabeth Molnar auf dem Papier. Fermer machte sie mit ein paar Telefonaten bei Meldeämtern und bei der Gebietskrankenkasse in Salzburg ausfindig. Damit gelang ihm, woran die Behörden in Österreich mit ihren Zettelkästen und Aktenschränken versagten.

Molnars Schicksal bewegt mittlerweile die ganze Nation, Fernsehteams umringen den Rentner. Nach Kriegsende ließ sich der US-amerikanische Besatzungssoldat Cleveland Owen auf eine Liebschaft mit Molnars Mutter, einer aus Ungarn geflüchteten Lehrerin ein. Die Militärpolizei der US-Army nahm der jungen Volksdeutschen den Säugling weg, internierte sie in einem Anhaltelager und erzählte ihr dann, der Kindsvater hätte den Buben nach Amerika mitgenommen. Molnar wurde ins Kinderheim nach Leonstein gesteckt und, als er heranwuchs, im Glauben gelassen, dass er eine Vollwaise sei. In Leonstein wurde er nicht nur schwer verprügelt, sondern auch von größeren Zöglingen vergewaltigt. In Schloss Neuhaus wachte er mit einer großen Wunde auf der Brust in einer Kammer auf, nachdem ihn eine Erzieherin fast totgeschlagen hatte.

Wie gestern im Prozess am Landesgericht Linz, vor dem Molnar das Land OÖ. als Verantwortlichen der damaligen Zustände in der Jugendfürsorge verklagte, festgestellt wurde, hatte der Jugendliche einen "Filmriss", nachdem er aus dem Heim entlassen wurde. Der Magistrat Steyr setzte schließlich den Bäckergesellen als dessen Vormund zur Volljährigkeit ohne Pass und Staatsbürgerschaft auf die Straße. Für Molnar war das anfangs nicht schlimm, er wollte nur weg, trampte durch halb Europa und wollte von dem ganzen Albtraum nichts mehr wissen. "70 bis 80 Prozent" bezifferte der Gerichtspsychologe Thomas Stompe die Wahrscheinlichkeit, dass Molnar sich dann an seine Kindheit nicht mehr erinnern konnte.

Wegbegleiter und Freunde wie der Salesianerpater Rudolf Decker (74) bestätigten die Gedächtnislücke. Decker, ein Priester im Strickpullover, der von seinem grauen Haarkranz eine Strähne in den Nacken baumeln lässt, brachte vor den Richter ein Bündel Briefe mit. Darin schrieb Molnar von so manchem Schiffbruch, den er im Leben erlitt, aber verlor keine einzige Silbe über seine Kindheit. Kurz nachdem ihn Fermer zu seiner Mutter brachte, besuchte er mit seinem Lebensgefährten das Jugendheim in Leonstein. Dort wusste er gerade noch, in welchem Zimmer sein Bett stand. "Ansonsten kam nichts", erinnerte sich Fermer.

2007 stellten die Ärzte im Kopf von Molnar ein Blutgerinnsel fest. Bei einer Notoperation wurde der aufgeplatzte aber gutartige Tumor entfernt. Dem Tod entronnen, tauchten schon in der Intensivstation Fetzen der Erinnerung auf. Zu Hause setzte sich Molnar an die Schreibmaschine, tippte Tag und Nacht und hämmerte unter Schweißausbrüchen wie besessen seine Kindheit in die Tasten.

Damit reicht die Vergangenheit in das Jetzt. Anwalt Gabriel Lansky geht damit davon aus, dass das Land OÖ. nicht mehr auf Verjährung setzen kann. Sein Gegenüber, Thomas Langer, bewertet die Lage ähnlich und stellt sich darauf ein, dass er für das Land in Berufung geht: "Es gibt da etliche Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes." Davor verfasst Richter Stefan Pellegrini sein Urteil. Die Dutzenden Zuhörer mit einem rot-weiß-roten Anstecker "Ehemaliges Heimkind" am Rock hoffen, dass die Sache nicht abgeschlossen ist.

Lansky: „Land OÖ. ist gewiss unser Hauptgegner“

Wenn Richter Stefan Pellegrini sich der Sichtweise des Gerichtspsychologen Thomas Stompe anschließt, der eine Jahrzehnte dauernde Erinnerungslücke bei dem ehemaligen Heimkind Jenö Molnar für sehr, sehr wahrscheinlich hält, dann sind die seinerzeitigen Misshandlungen in den Kinderheimen nicht verjährt. Für Schadenersatzforderungen – die Klagshöhe beträgt 1,62 Millionen Euro – wird sich Lansky „an das Land OÖ. als Hauptgegner“ richten. Lansky zeigte sich für den Fall, dass Richter Pellegrini in seinem Urteil tatsächlich eine Verjährung nicht gegeben sieht, auch für einen Vergleich bereit: „Es liegt am Land, ein faires Angebot zu machen.“ Wenngleich Prozessgegner das Land OÖ. sei, schloss Lansky gegenüber den OÖNachrichten aber nicht aus, dass auch der Stadt Steyr der Streit erklärt werden könnte, die als Molnars Vormund es verabsäumte, für ihn Staatsbürgerschaft und Reisepass zu erwirken. Vorrangig sei allerdings die gerichtliche Auseinandersetzung mit dem Land Oberösterreich, stellt Molnars Rechtsanwalt klar.     (feh)