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Die Künstlerin, die im Mühlviertel ihre Freiheit fand

27.November 2020

"Ich male, weil ich muss. Weil mich etwas drängt, mich treibt. Ich liebe, was mich verführt. Ich hasse, was mich zwingt. Kunst bedeutet Freiheit. Keine Grenzen haben. Kunst bedeutet Unsterblichkeit. Etwas da lassen werden. Kunst bedeutet aber auch Trieb. Schlaflose Nächte, weil das Baby in dir schreit. Ich liebe, was ich hasse. Ich liebe meine Berufung", beschreibt Doris Maria Weigl ihr Schaffen als Künstlerin.

Dabei sollte sie Bäckerin werden. Brot statt brotloser Kunst sollte ihrer Hände Werk sein. Alle Mädchen wollten "sie" damals in die Lehre schicken. Man würde ohnehin geheiratet werden. "Was folgte, war Widerstand. Widerstand, der sich durchgesetzt hat. Widerstand, der mir geblieben ist. Für alle Mädchen und Frauen, denen ‚sie‘ ihr Leben bestimmen wollen."

Einsamkeit in Wien

In Wien erlebte die Künstlerin die Reduktion als Nährboden ihres Schaffens. "Früher habe ich immer klein gemalt, kleine Bilder, kleine Projekte, gelebte Unscheinbarkeit. In Wien bin ich groß geworden. Dort ist auch mein Herzensprojekt ‚ICH BIN.‘ entstanden", erzählt Weigl. Unter diesem Titel malt sie Frauen, die nicht ihrem Soll, dem typischen Frauenbild, entsprechen: "Wie oft fühle ich deren Ohnmacht. Wie oft wird frau von der Gesellschaft auf ihr Äußeres oder ihr Entsprechen reduziert. Wie wenig wert ist die Arbeit einer Frau, und das noch heute", fragt Weigl. Mit "ICH BIN." will sie diesen Frauen bildhaft eine Stimme verleihen.

Ankunft im Mühlviertel

Letztendlich hat Weigl Wien den Rücken gekehrt. "Ein bisschen hat es sich angefühlt wie das perfekte Ende einer unperfekten Beziehung. Wir haben einfach nicht zusammengepasst und uns in Dankbarkeit getrennt. Jetzt küsst mich die Muse im schönen Mühlviertel", sagt sie. Während sie in Wien ihre Nachbarn kaum gekannt habe, seien hier in Aigen-Schlägl und darüber hinaus nach kurzer Zeit schon echte, wundervolle Freundschaften entstanden. "Das fühlt sich gut an. Ja, hier bleibe ich", war die Schlussfolgerung, die das Mühlviertel um eine Künstlerin reicher gemacht hat. Allein: "Ich fiebere dem Ende dieser unsäglichen Corona-Zeit entgegen. Endlich wieder Ausstellungen; Begegnung, Leben, Kunst, die nach draußen darf. Dabei sind meine Ausstellungen immer eine Achterbahn der Gefühle. Ich lasse ja lieber meine Bilder sprechen, als mich zu hören", sagt Doris Maria Weigl.

Bild "J" aus der Serie "ICH BIN."

Eines dieser Bilder ist das Werk "J" aus der "ICH BIN."-Serie. "Schon das Telefonat mit Johanna war einzigartig und bezaubernd. Der Stimme nach schätzte ich sie auf 80 Jahre oder mehr. Wie alt sie wirklich ist, habe ich sie nie gefragt", erzählt Weigl und erinnert sich an ihr Modell als Frau, die unvorstellbares erlebt hat und sich vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte verdiene, etwa die Corona-Pandemie etwas lockerer zu sehen. Den Krieg habe sie miterlebt, den Vater und zwei Brüder verloren. "Wissen S’, die Pandemie interessiert mich nicht. Risikogruppe oder nicht, ich hab mein Leben gelebt. Ich will mich nicht wieder verkriechen müssen, in den paar Jahren, die mir noch bleiben. So wie damals im Krieg." Ein Satz, den Johanna mehrmals sagt, bleibt bei der Künstlerin ganz besonders hängen: "Urteile nie zu schnell, es gibt immer mehrere Seiten." Fast vier Stunden hört Weigl der quirligen Dame zu, ehe diese ruhig wird. Die Künstlerin skizziert, fotografiert. Das gefällt der dergestalt Verewigten, die frech in die Kamera lacht und unvermittelt den Mittelfinger in die Kamera streckt: "Kinderl, ich kann nicht so lange stillsitzen, ich habe noch viel vor!" "Wir mussten beide lange lachen, was für ein besonderer Moment", erinnert sich Weigl und machte sich mit der Bitte ans Werk, doch kein "normales, braves Porträt" zu zeichnen.

Ein mühsamer Prozess

"Ich bewundere diese Frau, die so viel erlebt hat und nicht müde wird, immer weitermachen zu wollen. Ich bewundere ihre Energie, ihren Mut und ihren Willen", wusste Weigl, ehe sie das Porträt schuf. Zuerst entstehe ein Bild in ihrem Kopf. Das kann Wochen dauern. In allen möglichen Situationen flammen Bilder auf. Es sei ein mühsamer Prozess, aber auch ein herrlicher. So entstand Johannas Kunstwerk, Schritt für Schritt. "Beim Malen dachte ich oft daran, wie wir mit den Alten umgehen. Und ich bin schockiert, mich selbst dabei zu ertappen, das Wort ‚alt‘ als negativ zu sehen", erzählt die Künstlerin.

Die Künstlerin, die im Mühlviertel ihre Freiheit fand
Johannas Geschichte bewegte die Künstlerin. Wem wohl die ältere Dame den Mittelfinger entgegenreckt?

Nach einigen Wochen zeigte sie Johanna ihr Bild. Wie immer war sie extrem angespannt. Die Frage drängte sich auf, ob man zu weit gegangen sein könnte. "Als Johanna ihr Porträt sah, hat sie tief durchgeatmet und stolz gelächelt. Sie sagte kein Wort, drückte mich und begann zu weinen. Das wohl schönste Kompliment für mich als Künstlerin." (fell)

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