Ein richtig falsches Mutterleben
Keinen Apfel, sondern eine Birne aus der Obstschale genommen – das war heute einer meiner ersten Fehler. Dieses Obststück, gestern noch gewünscht, heute grundverkehrt, wagte ich auf einem Teller zum Frühstück zu servieren. Dann habe ich aufgrund der dringenden, drängenden Nachfrage doch einen Apfel geholt, aber einen roten. Rot war falsch. Grün war auch falsch. Blaue Äpfel gibt es noch nicht, aber Gott sei Dank musste ich kurz darauf erkennen: Apfel ist ohnehin falsch. Frühstück ist falsch. So musste ich das heute in der Früh schon von meinem Kleinkinde lernen.
Meine Verfehlungen hatten damit kein Ende genommen. Denn ich habe bei einem anderen Kind nicht die richtige Hose in der Lade gefunden. Alle sauberen, eingeräumten und passenden Hosen sind blöd. Um 6.20 Uhr nicht in der Lage gewesen, eine neue Hose herbeizuzaubern – Fehler!
Ein Kind daran erinnert, dass eine Englisch-Hausübung abzugeben ist. Hilfe geleistet beim Erstellen dieser Englisch-Hausübung durch rasches Holen von Zettel und Stift. Natürlich habe ich den falschen Stift geholt, vielleicht erkennen Sie ein Muster. Erwähnt, dass der Bus bald fährt. Schuld am Busfahrplan. Schuldig gemacht, wegen Hilfeleistung beim Schultaschen-Einräumen.
Mein Leben, Sie erkennen es, ist voller Verfehlungen. Noch lange bevor ich in der Früh meinen ersten Kaffee ausgetrunken habe, stapeln sich die Sünden.
Und wenn Sie jetzt denken, es liegt nicht an mir, sondern an den Nachwüchsen – ich schwöre, wenn jemand anderer Hosen vorgeschlagen, Äpfel geschnitten oder an den Bus erinnert hätte, dann wäre die Reaktion ein freundliches Lächeln, wahrscheinlich sogar gefolgt von einem "Danke" gewesen. Nur bei der Mama schaut das anders aus. Und – um das Ganze besonders trickreich zu gestalten – in vielen Situationen muss es einfach auch die Mama sein. Da ist kein anderer gut genug, da darf kein anderer an der gestellten Aufgabe scheitern. "Alles halb so schlimm", beruhigen Psychologen. Kinder würden dieses Verhalten nur zeigen, weil sie sich bei der Mama sicher fühlten, weil sie dort Druck und Dampf ablassen könnten. Weil sie nach all dem guten und gruppenkompatiblen Benehmen, das von ihnen in vielen Situationen verlangt wird, auch einmal aufgestauten Gefühlen Platz geben müssten.
Als Zeichen des Vertrauens und der bedingungslosen Liebe solle man es sehen, wenn das Kind ausgerechnet bei der Mutter zeigt, was noch alles in ihm steckt. Also bewerte ich auch neu, was das jüngste Familienmitglied neulich streng zu mir sagte: "Mama! Nicht atmen!"