Sagenhaft: Besuch von Gott

Vor langer, langer Zeit, war’s gestern oder war’s heut’, da lebte eine alte Frau. Die bemühte sich aufrichtig um ein gutes Leben. Eines Nachts kam ihr im Traum eine Stimme unter. Die ging ihr durch und durch. "Gute Frau", sagte die Stimme, "ich sehe, wie aufrichtig du dich um ein gutes Leben bemühst. Morgen werde ich dich deshalb besuchen."

Beim Aufwachen ging der alten Frau das alles noch durch den Kopf: "Das war der liebe Gott! Der kommt heute zu mir!" Sie konnte es kaum fassen. Wenn schon der liebe Gott zu Besuch kommt, dann heißt es natürlich, alles aufs Beste vorzubereiten. Gleich begann sie zu kehren und zu putzen. Sie schrubbte die Böden, sorgte dafür, dass die Fenster blitzblank waren. Dann kochte sie: Suppen, Braten, Knödel, Stöcklkraut, Salzerdäpfel, Strudel und Kuchen. Dazu Salat. Aus dem Wirtshaus holte sie frisches Bier. Auch guter Wein musste her!

Endlich war sie fertig. Schnell gewaschen und das Festtagsgewand angezogen. Jetzt fehlte nichts mehr, alles war bereit. Und was war mit dem lieben Gott? Es war schon früher Nachmittag. Er musste also bald kommen. Müde von der Arbeit setzte sich die alte Frau auf die Ofenbank.

Da klopfte es auch schon. Das musste er sein! Geschwind hin zur Tür. Da stand ein Hausierer vor ihr.

"Ach, gute Frau", sagte er, "lass mich bei dir ein wenig aufwärmen. Es ist gar so kalt!"

"Nichts für ungut", sagte die alte Frau, "aber du kommst wirklich ungelegen! Schau nur, wie schmutzig du bist. Zu mir kommt heute der liebe Gott auf Besuch. Du wirst verstehen, dass ich dich da nicht hereinlassen kann, so dreckig wie du bist! Ein anderes Mal gern, aber jetzt schau zu, dass du weiterkommst!" Und schon hatte sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Die Zeit verging. Da klopfte es wieder. Eine Bettlerin war’s – auch die wollte sich aufwärmen. "Nein, heute nicht!" sagte die alte Frau. "Da hast du ein Stück vom warmen Strudel. Such dir woanders einen Platz." Gleich darauf stand ein Bettelmusikant vor der Tür. Im Handumdrehen war auch der abgewimmelt.

Langsam wurde es finster. Erschöpft und müde saß die alte Frau auf der Ofenbank. Da ging ihr ein Schläfchen zu. Wohlig glitt sie hinüber ins Reich der Träume. Und wer kam ihr da unter: Der liebe Gott! Empört fuhr die alte Frau ihn an: "Also alles was recht ist, lieber Gott! Gestern hast du mir versprochen, mich zu besuchen. Ich habe mir solche Mühe gegeben – und was war? Nichts!" "Was heißt, ich hätte dich nicht besucht?", meinte der liebe Gott, "Drei Mal bin ich bei dir gewesen – aber du hast mich ja nicht ins Haus gelassen!"

In der Früh ging der alten Frau der Traum immer noch durch den Kopf: Drei Mal hatte sie den lieben Gott von der Tür gewiesen! – Auf der Stelle beschloss sie, es künftig besser zu machen. Wenn fortan jemand vor ihrer Tür stand, dann gab sie – und das reichlich! "Wer weiß, vielleicht ist es ja der liebe Gott!", sagte sie sich, "Und wer will schon den lieben Gott vor der Tür stehen lassen?"

 

Der Autor: Helmut Wittmann

Seit mehr als 23 Jahren ist Wittmann Märchenerzähler von Beruf. Auf seinen Antrag nahm die UNESCO das Märchenerzählen in Österreich in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes auf. Wittmann veröffentlichte unter anderem bei Tyrolia "Sagen aus Oberösterreich" und bei Ibera "Das große Buch der österreichischen Volksmärchen".

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