Die Leidensgeschichte in 14 Stationen

Von Alois Brandstetter   16.April 2019

Im Jahr 1950 schuf Max Weiler Bilder zum Thema des sogenannten Freudenreichen Rosenkranzes für fünf Bildstöcke an der Straße von Hall in Tirol nach Innsbruck. Am 12. Juli 1956 standen zwei Gymnasiasten des Welser Realgymnasiums vor jenen Marterln und staunten über die moderne Kunst. Ich, einer von den beiden, notierte am Abend meine Zustimmung in mein Reisetagebuch, das ich auf der Radtour nach Rom führte. Und andächtig gestimmt und durchaus zum Beten aufgelegt waren wir wohl auch, die wir in den Packtaschen neben Zelt und Proviant lateinische Empfehlungsschreiben unseres Religionslehrers und Pfarrers dabeihatten, die wir auf der Suche nach einem christlichen Quartier in italienischen Klöstern und Pfarrhöfen vorzeigen wollten.
Wir verbrachten freilich dann doch alle Nächte nur im Zelt oder in Heustadeln. Mir war aber beim Betrachten der Haller Bildstöcke damals nicht klar, dass es sich beim Maler dieser Bilder gerade um jenen Künstler handelte, über den fünf Jahre davor am Kollegium Petrinum, wo ich „Zögling“ war, wegen des von ihm geschaffenen Altarbildes in der Friedenskirche in Urfahr zum Thema der Apokalypse des Johannes so heftig gestritten wurde. Und bei den Marterln handelte es sich um keinen Kreuzweg, wie ich anfangs dachte, sondern im Gegenteil um die Darstellung des Triumphes nach dem Leiden und der glorreichen Auferstehung, um die Himmelfahrt des Herrn und die Aufnahme Mariens in den Himmel.

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Die 2400 Kilometer, die wir vor uns hatten, waren schließlich wohl kein „Kreuzweg“, aber im Rückblick doch so etwas wie eine Tour der Schmerzen und eine Tortur, mit etlichen Pannen, „Patschen“ und Kettenrissen, vor allem aber mit viel Gegenwind, Regengüssen und einigen Stürzen… Und dies alles mit einem primitiven Rad ohne Gangschaltung! „Duro, duro!“, hatte uns ein spöttischer Schafhirte zugerufen, als er uns sah, wie wir uns den Passo di Raticosa hinaufquälten, und er hatte recht, denn hart war die Passage, hätte freilich eher Mitleid als Spott und Schadenfreude verdient.

Die drei Rosenkränze, der „Freudenreiche“, der „Schmerzhafte“ und der „Glorreiche“, den Max Weiler „illustriert“ hat, haben je fünf „Gesätzchen“, der Kreuzweg aber hat bekanntlich 14 Stationen, von der Verurteilung über die „Kreuzaufnahme“, drei Stürze unter dem Kreuz, die aber biblisch nicht belegt sind, die Begegnung mit der Mutter, die auch nicht in der Bibel belegt ist, über Simon von Kyrene, der gezwungen wird, Jesus beim Kreuztragen zu helfen, die sechste Station „Veronika reicht Jesus das Schweißtuch“, die Szene mit den weinenden Frauen von Jerusalem, nach Lukas 23,27-31, „Jesus wird seiner Kleider beraubt“ nach Matthäus 27,35, „Jesus wird ans Kreuz geschlagen“, „Jesus stirbt am Kreuz“ nach Matthäus 27,45-51,54, „Jesus wird vom Kreuz genommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt“ nach Johannes 19,38, und zuletzt „Jesus wird ins Grab gelegt“ (Matthäus 27, 57-66).

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Ja, die Leidensgeschichte ist buchstäblich quälend lang, darum haben mitfühlende Theologen für die Lesung am Palmsonntag und am Karfreitag eine Kurzfassung erarbeitet, die die Gottesdienstbesucher in den noch kalten Kirchen im Vorfrühling nicht erschöpft und erkältet zurücklässt und die ungeduldigen Kinder nicht überfordert.
In abertausenden Kirchen der Christenheit sind wie das ewige Licht, wie das Weihwasserbecken, wie die Apostelkreuze, die Altäre, die Kanzeln die 14 Kreuzwegstationen in Gemälden oder plastisch in Reliefs vorhanden, einzelne Szenen, wie jene der 13. Station auch in Einzeldarstellungen: Michelangelos „Pietà“ aus dem Petersdom, die man vor einigen Jahren um die Welt geschickt hat, gilt vielen als das bedeutendste und erschütterndste Kunstwerk, das je ein sterblicher Mensch geschaffen hat. Wer aber zählt die Kreuzwege in Europa, die außerhalb der Kirchen errichtet wurden, oft 14 kleinere Kapellen entlang eines Weges auf eine Anhöhe, wie in Urfahr vom Petrinum aus auf den Linzer Pöstlingberg, sozusagen Golgotha, den wir Petriner meditierend und Passionslieder singend gegangen sind.

Wie in Feldbach in der Oststeiermark, dessen Kirche auch einen eindrucksvollen Tabor hat. In Klagenfurt gibt es einen Kreuzweg auf das sogenannte Kreuzbergl, den der Maler Karl Bauer auch als Mahnmal und Kriegergedenkstätte ausgestaltet hat. Hinter der Kirche aber erhebt sich eine Kreuzigungsgruppe mit dem gekreuzigten Heiland in der Mitte und den beiden Schächern an seinen Seiten.

Einen besonderen, wirklich „eigenartigen“ Kreuzweg haben Kärntner Künstler und Künstlerinnen der Gegenwart in Stein im Jauntal errichtet (Valentin Oman, Ernst Gradischnig, Werner Lößl, Kiki Kogelnig u.a.), der als „Kreuzweg zur Kunst“ touristisch beworben wird, spirituell gesehen vielleicht ein „Umweg“ zum Kreuz. Es bleibt die sogenannte Gretchen-Frage: Sag, wie hältst du es mit der Religion? Max Weiler hat in der der heiligen Theresia von Lisieux geweihten Kirche im Stadtteil Hungerburg in Innsbruck eine Kreuzigung gemalt und eine seinerzeit äußerst umstrittene Antwort auf jene bedrängende Gewissensfrage gegeben: Unter dem Kreuz stehen mehr oder weniger unbeteiligte Menschen, als Tiroler gekennzeichnet und in Einzelfällen als konkrete Personen porträtiert.

So sieht man im Publikum den Tiroler und Vorarlberger Gauleiter Franz Hofer… Und im Bild „Lanzenstich“ tragen die römischen Söldner, Bauern und Schützen Tiroler Tracht! Damit hat er nicht nur im „heiligen Land Tirol“ einen wahren Sturm der Entrüstung und Empörung entfacht. Damals, im Jahr der heftigen Auseinandersetzungen um die Fresken Max Weilers, gab es in Linz wie zur Beruhigung der erhitzten Gemüter die Ausstellung „Tausend Jahre christlicher Kunst in Oberösterreich“.

Wir Petriner haben sie besucht, und ich war richtiggehend stolz, als ich dort zwei Kreuzwegbilder aus Pichl bei Wels sah, vor allem das Bild der Station XIII „Jesus wird in den Schoß seiner Mutter gelegt“, das ich von unserem Kirchensitz in der Empore, beschriftet mit „Aichmüller Aichmühl“, so oft neben meinem Vater sitzend aus der Nähe gesehen und bewundert habe!

Dieses Bild und ein zweites sind nach dem übereinstimmenden Urteil der Fachleute von Wolfgang Andreas Heindl, dem bedeutenden Barockmaler, die übrigen Bilder des Kreuzwegs seien, wenn nicht von ihm selbst, so aus seiner Werkstatt, die er in Wels betrieben hat. Er scheint ähnlich viele Helfer und Schüler gehabt zu haben wie Peter Paul Rubens.

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Wer heute die Kirche in Pichl besucht, wird dort nicht nur drei Altarblätter von Bartolomeo Altomonte und den manchmal drastischen Heindl-Kreuzweg bestaunen und „bewundern“, er wird schon vor dem Eintritt in die Kirche am Westportal, links der Mauer, auf eine merkwürdige Installation aufmerksam werden, aus der Mauer kommende gespannte Drähte, die in mit Namen beschriftete Bodenplatten münden. Es handelt sich um eine Gedenkstätte für die sogenannten „Kinder von Etzelsdorf“, jene in der NS-Zeit im nahen Schloss Etzelsdorf „untergebrachten“ Kinder von meist polnischen Zwangsarbeiterinnen, die in diesem „Heim“, wie es bekanntlich mehrere in Oberösterreich gab, gestorben sind und anonym irgendwo auf dem Pichler Friedhof in der Nähe der Kindergräber „beigesetzt“ wurden.

Wer dies bedenkt und der armen Kinder und ihrer verzweifelten Mütter gedenkt, wird den Kreuzweg in der Kirche, das Bild der weinenden Frauen von Jerusalem, nicht nur als ästhetische Sensation, sondern „mit anderen Augen“ und mit Betroffenheit sehen.

 

Alois Brandstetter wurde 1938 in Pichl bei Wels geboren. Bis er 1951 der Schule verwiesen wurde, besuchte er das Kollegium Petrinum in Linz. Nach der Matura in Wels studierte er Germanistik und Geschichte. In mehr als 25 Romanen (u. a. „Zu Lasten der Briefträger“) analysiert der Mostdipf-Preisträger Gesellschaft und Sprache.