Wilmas Tagebuch: Jeden Tag eine Seite
Wilma Himmelfreundpointner hat einen der längsten Nachnamen. Und sie schreibt Tagebuch. Ihr Leben lang.
Wissen Sie, was heute, vor vierzig Jahren passiert ist? Ohne dabei die Internetsuchmaschine anzuwerfen? Wilma Himmelfreundpointner aus Wels weiß es ganz genau. Ihr Google ist ihr Tagebuch, ihre Tastatur ihr Kugelschreiber.
"Es hat nie wer gesagt, dass ich ein Tagebuch schreiben soll. Die ersten Einträge habe ich in den Ferien, nach der ersten Schulklasse, geschrieben", erzählt die quirlige und sympathische Frau Himmelfreundpointner. Damals war es noch ein kleines, orangefarbenes Büchlein, gespickt mit "süßen Aufzeichnungen" aus der Kindheit. Seit 1974 bringt Wilma ihre persönlichen Erlebnisse und Emotionen in einem Kalenderbuch zu Papier. Umhüllt von einem braunen, ledernen Überzug, der selbst eine Geschichte erzählt, und mit bunten Stickern aus aller Welt beklebt ist. Den Umschlag hat sie von einer Schulfreundin in den 80er Jahren geschenkt bekommen. Er schützt das Tagebuch, das dem Namen gerecht wird. Jeden Tag wird in der Früh genau eine Seite geschrieben. Nicht mehr und nicht weniger.
Einblicke aus dem Ausland
"Es gibt keinen Tag ohne Tagebuch. Da würde mir etwas fehlen", sagt die leidenschaftliche Schreiberin. Aber wieso immer nur eine Seite, wenn es sicher emotionale Momente gibt, die nach seitenlangen Essays rufen? "Jeder Tag ist besonders und gehört gleich gewürdigt. Wenn ich viele Eindrücke auf Papier bringen möchte, muss ich kleiner schreiben. Als ich Südamerika bereiste, konnte man die Schrift nur noch mit der Lupe entziffern", erzählt die gebürtige Welserin, die mittlerweile St. Anton am Arlberg weltweit vermarktet. Folglich befinden sich in den Büchern viele Eindrücke aus dem Ausland. Wilma beherrscht sechs Sprachen in Wort und Schrift und kann sich in drei weiteren Sprachen verständigen. Geschrieben wird aktuell in Deutsch. "Meine Eltern sind viel gereist. Wir waren in Indien, im Iran oder im Libanon. Neugierde ist die Mutter des Wissens. Und mein Papa wollte alles wissen und fragte die Reiseleiter Löcher in den Bauch", erzählt sie. Von ihren Eltern hat sie neben der Reiselust, auch das Schreib-Gen vererbt bekommen. "Meine Mama dichtet sehr viel und hält Lesungen ab. Mein Vater ist bereits 87 Jahre alt. Aber auch er schreibt seit seiner Kindheit ein Tagebuch - ein Wirtschaftstagebuch."
Wilmas Aufzeichnungen sind persönlicher. "Es sind meine Gedanken. Mein Tagebuch ist mein engster Freund und Vertrauter. Andere gehen zum Psychologen, ich habe mein Tagebuch." Je nach Tagesverfassung erkennt man die Gefühlsregungen am Schriftbild. "Auch wenn die Schrift nicht die Schönste ist, lese ich heraus, ob ich gut oder schlecht drauf war." Frau Himmelfreundpointner schreibt nicht mit Bleistift (bleicht aus), sondern mit Kugelschreiber. Bis er leer ist. Insgesamt wurden 44 Tagebücher ausgeschrieben, die danach versperrt werden. "Ich habe es in meinem Testament vermerkt. Wenn ich sterbe, sollen auch meine Tagebücher ungelesen verbrannt werden. Das ist zu persönlich."
Abrufbare Erinnerungen
Wilma gibt aber gerne als lebendes Archiv anderen Freunden Auskunft, wenn es um Ereignisse in der Vergangenheit geht. Sei es, um Diskussionen die Grundlage zu entziehen, oder um Freundinnen zu beruhigen, die sich um ihre pubertierenden Töchter sorgen. "Schau was wir in diesem Alter gemacht und gedacht haben. Auch wir glaubten damals, dass unser Leben nicht nur aus Lernen bestehen kann", beschwichtigt Wilma ihre Freundin.
Wilma blättert keineswegs willkürlich im Tagebuch herum, sondern ist sehr fokussiert. Jeden Tag schaut sie in ihre Vergangenheit, was vor exakt einem Jahr, 10, 20, 30 und 40 Jahren passiert ist. Vor vier Jahrzehnten hat Wilma gerade die vierte Klasse Gymnasium besucht und ihre Gedanken verfasst. Angesprochen auf die heutige Jugend glaubt sie aber nicht, dass jetzt weniger geschrieben wird. "Nein, das denke ich nicht. Aber es wird mehr mit dem Computer gearbeitet."
Um Kinder in ihrem Umfeld zum Schreiben zu motivieren, verschenkt Wilma gerne Tagebücher. "Schreiben ist keine Arbeit. Zähne putze ich auch jeden Tag. Man muss sich nur die Zeit nehmen. Vielleicht bringe ich andere auf die Idee zu schreiben. Es ist einprägsam. Wenn du im Tagebuch nachliest, spürst du die ganze Situation von damals. Das ist faszinierend und schön."
Berühmte Tagebücher – berühmte Autoren
Franz Kafka: Der deutschsprachige Schriftsteller wehrte sich gegen die Veröffentlichung seiner Tagebücher, die er unter anderem als psychische Stütze verwendete. Die von den Jahren 1909 bis 1923 erhaltenen Tagebücher sind in der Bodleian Library in Oxford zu finden.
Max Frisch: Vom Schweizer Schriftsteller sind die veröffentlichten Tagebücher 1946–1949 und 1966–1971 bekannt.
Anne Frank: Eines der berühmtesten und bewegendsten Tagebücher wurde 2009 von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen.
Thomas Mann: Der Literaturnobelpreisträger schrieb sein Leben lang Tagebuch und verbrannte einen Großteil der Bände. Einige Ausgaben bis zum Juli 1955 blieben erhalten, und durften erst 20 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden.
Glückwunsch Frau Himmelfreundpointner! Ich schreibe auch seit Jahrzehnten Tagebücher. So spät kann ich gar nicht nach Hause kommen, dass ich nicht meine Eintragungen mache. Wenn ich beruflich einmal auswärts bin, dann schreibe ich meine "geistigen Ergüsse" auf ein loses Blatt Papier und übertrage es wenn ich wieder zu Hause bin. Es ist ein großer Unterschied, ob man die Aufzeichnungen noch am selben Tag oder einen Tag später so quasi aus der "Erinnerung" tätigt.
Liest sie selbst eigentlich nach? Oder geht es ihr nur um den Prozess des (Nieder)Schreibens?
Hallo KanossaGang,
jeden Tag wird geschaut, was vor einem, 10, 20, 30, 40 Jahren passiert ist.
lg
Philipp Braun
Schönes Tagebuch, selbst das erzählt ja schon von einigen Geschichten auf der äußeren Haut.