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Walter Ötsch: „Ein Macher hat keine freie Minute“

Von Martin Dunst, 26. November 2011, 00:04 Uhr
Walter Ötsch
Ötsch muss in die Vorlesung, blickt aber relativ entspannt auf die Uhr. Bild: Dunst

Walter Ötsch im OÖN-Interview über Müßiggang und Dauerstress als Statussymbole ihrer Zeit

OÖN: Wie haben den Menschen die Zeit begriffen, die keine Uhr hatten, nicht lesen und schreiben konnten, die vielleicht nur zwischen Tag und Nacht unterschieden haben?

Ötsch: In der Antike beispielsweise gibt es lauter zyklische Zeitkonzepte. Gemeint ist die Wiederkehr des Gleichen. Es gibt nicht einen Frühling, sondern den Frühling, der immer wieder kehrt. Die Zeit ist eingebettet in natürliche Rhythmen: Jahreszeiten, Mondphasen, Tag und Nacht. Der größte Teil der Bevölkerung lebte von Landwirtschaft. Das Überleben stand im Mittelpunkt. Die Menschen waren stark verbunden mit Natur und natürlichen Kreisläufen.

OÖN: Wann fand denn ein erstes Umdenken von zyklischen Zeitkonzepten hin zu einer linearen Zeit mit Anfang und Ende statt?

Ötsch: Die lineare Zeit, so wie wir sie kennen, mit einem 24-Stunden-Tag ist ein jüdisch-christlicher Gedanke. Die Erschaffung der Welt und das Erscheinen des Messias steht für den Anfang, die Apokalypse für das Ende. Ab dem Mittelalter dominiert der christliche Zeitbegriff. Es heißt anno domini – im Jahre des Herrn. Für den Durchschnittsmenschen, der in der Regel nicht lesen und schreiben kann, spielt das keine Rolle. Es ist davon auszugehen, dass Mönche die Ersten waren, die nach einem linearem Zeitkonzept mit einer 24-Stunden-Taktung gelebt haben. Sie waren angehalten, alle drei Stunden zu beten.

OÖN: Wie konnten denn die Mönche wissen, wann wieder drei Stunden vergangen waren, es wird wohl noch keine Taschenuhren gegeben haben?

Ötsch: Nein, von Uhren im Kleinformat kann noch lange keine Rede sein. Die Mönche maßen Zeit zum Beispiel mit Kerzen oder mit Wasseruhren, das waren hochkomplexe Apparate. Wie gesagt: außerhalb des Klerus spielt das 24-Stunden-Maß noch lange keine Rolle. Bis ins ausgehende Mittelalter existierte für viele Menschen nur der helle Tag, also die Stunden von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.

OÖN: Doch dann kam es zu einer bahnbrechenden Erfindung, die das 24-Stunden-Konzept Schritt für Schritt nicht mehr nur dem Klerus sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat.

Ötsch: Im letzten Drittel des 13 Jahrhunderts findet ein großer Wandel durch die Erfindung der mechanischen Räderuhr statt. Es handelt sich wohl um eine der wichtigsten Maschinen, die je ersonnen und verwirklicht worden ist. Allerdings weiß man weder wer die Räderuhr erfunden hat, noch woher sie stammt, oder welchem ursprünglichem Zweck sie dienen sollte.

OÖN: Wie und wo fanden denn diese Räderuhren Verwendung?

Ötsch: Die mechanischen Räderuhren wurden gekoppelt mit Glockenwerken. Diese Vorrichtungen standen in den Städten des 14. Jahrhunderts für Reichtum und Modernität. Es gab für fast alles im alltäglichen Stadtleben ein eigenes Glockensignal: Vorlesungsbeginn an der Universität, Stadttor geht auf, Gottesdienst beginnt. Es existiert eine Überlieferung, wonach sich ein Wanderer, wenn er sich an einem Festtag einer Stadt wie Mailand genähert hat, mit hundertfachem Glockengebimmel konfrontiert war.

OÖN: Das klingt nach mittelalterlicher Dauerbeschallung. Wie ist denn der Vormarsch unser heutigen Zeitrechnung weiter gegangen?

Ötsch: Die Zeiteinteilung und Zeitmessung wie wir sie heute kennen, setzt sich nur sehr langsam durch. Magistrats- und Gerichtsprotokolle belegen das. Bis ins 17. Jahrhundert gab es hohe Beamte die keine Uhr hatten. Sie fuhren auf gut Glück zu einem Sitzungs-Termin mit einem Adeligen. War der Gesprächspartner nicht anwesend, fuhr der Beamte unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Nichtsdestotrotz erlebte die 24-Stunden-Einteilung ab dem ausgehenden 14. Jahrhundert einen Boom. Die Technologie der Zeitmess-Geräte wurde verfeinert. Im 15. Jahrhundert taucht zum Beispiel das „Nürnberger Ei“ auf. Ein Jahrhundert später ist die Taschenuhr ein Prestigeobjekt. Auf vielen Gemälden aus der Renaissance sind Adelige samt ihren Uhren zu sehen. Die Taschenuhr war damals so etwas wie heute ein Rolls Royce.

OÖN: Was hat es denn mit dem geflügeltem Wort „Zeit ist Geld!“ auf sich?

Ötsch: Der lineare Zeitbegriff geht einher mit dem Siegeszug des Kapitalismus, der in Norditalien des 13. Jahrhunderts seinen Ursprung hat, und etwa im Hansebund oder bei den Fuggern seine Fortsetzung findet und sich durchsetzt. Das Zinssystem, das System der Banken und Versicherung fußt auf einem linearem Zeitbegriff und auf zeitlich abgestimmten sozialen Handlungen. Lineare Zeit und Kapitalismus sind untrennbar miteinander verbunden.

OÖN: Zeit in unserem Sinn, war vielen Menschen also bis in die Neuzeit nicht wichtig. Seit wann blickt denn der Mensch ständig auf die Uhr?

Ötsch: Die Workaholic-Einstellung samt dem vielen auf die Uhr schauen ist kulturgeschichtlich ein junges Phänomen. Im Mittelalter galt der Müßiggang des Adels als Zeichen von Wohlstand und sozialem Ansehen. Später gibt es im Großbürgertum das Bild des wohlhabenden Flaneurs, der es sich leisten kann nicht zu arbeiten. Ein hohes Zeitbewusstsein findet sich erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts. Ab da gibt es die allgemeine Idee von Geschichte. Zuvor gab es nur Geschichten. Die Idee des Fortschritts mit dem Credo, „wir wissen nicht was morgen ist, aber es wird besser“ – ist vor 150 Jahren allgegenwärtig. Die Eisenbahn ist verantwortlich, dass sich unterschiedliche Zeitregionen koordinieren. Der Fahrplan macht das notwendig.

OÖN: Müßiggang, flanieren und bummeln – das ist längst passé. Heute gibt doch beinahe jeder an, dass er oder sie gestresst ist.

Ötsch: Stress ist ein Statussymbol. Ein Macher hat keine Zeit. Wer als Letzter zur Sitzung kommt, als Erster wieder fort muss und nie einen freien Termin hat, der gilt etwas und ist wichtig. Wer oben auf der sozialen Leiter steht, geht schnell und mit Drive. Wer sich Zeit lässt, kann nichts zu tun haben.

OÖN: Arbeit und Zeit – diese zwei Begriffe scheinen so untrennbar miteinander verbunden zu sein wie „Zeit ist Geld!“.

Ötsch: So würde ich es sehen. Es ist belegbar, dass der Arbeitsdruck auf viele Menschen in den vergangen 20 Jahren gestiegen ist. Die hohe Intensität empfindet der Eine als fordernd und anregend. Hohe Burn-Out-Raten bezeugen aber auch das Gegenteil. Ein Teil der Bevölkerung kippt aus dem System. Und im Neoliberalismus ist der Einzelne selbst schuld an seinem Leid und nicht das System oder die Manager. In Ländern wie Spanien, wo die Jugendarbeitslosigkeit an die 40 Prozent beträgt, leben junge Menschen in einer ganz anderen Wirklichkeit ohne Zeitvorgaben. Sie sind in vielen Fällen ohne Halt. Denn Arbeit bedeutet auch eine Form von Tagesstruktur und Sicherheit.

OÖN: Es waren ja auch junge Menschen, zumeist gut ausgebildet aber ohne Job, die in der arabischen Welt auf die Straßen gegangen sind.

Ötsch: So ist es. Diese zumeist jungen Männer haben vom Familienverband her den Druck: Zahle die in dich gesetzten Investitionen endlich zurück. Gleichzeitig sind diese Arbeitslosen in ihrem Stolz verletzt, haben das Gefühl es nicht zu bringen.

OÖN: Parallel dazu gibt es die Sehnsucht der Dauergestressten nach Entschleunigung.

Östsch: Wir leben in einer ambivalenten Zeit, das gilt es zu erkennen und mit diesem Wissen gut zu leben. Es gibt in der hektischen Welt auch eine eigene Kultur des Ausspannens. Ich denke an die boomende Wellnessindustrie. Viele Menschen rechtfertigen permanente Hektik und Druck damit, dass sie ja dann 14 Tage auf Urlaub fahren würden. Nach außen präsentiert man danach nur die schönen Fotos – dass in Wahrheit die Kinder lästig waren und dauernd gestritten worden ist, wird verschwiegen.

OÖN: Verhält es sich nicht ganz ähnlich mit Weihnachten?

Ötsch: Die Weihnachtszeit ist eine Art Auszeit, in die viele Menschen hohe Erwartungen setzen. Für einige Menschen ist diese Zeit zudem noch von spiritueller Bedeutung. Schaut man genauer hin, ist Weihnachten vor allem eine Krisenzeit. Man muss sich plötzlich aufeinander beziehen, obwohl man das nicht gewohnt ist. Spannungen, die es in jeder Beziehung gibt, treten offen zu Tage. Im tatsächlichen Erleben bedeutet das Stress. Ein Mann ist daher vielleicht sogar froh, wenn er nicht mehr mit der Frau reden muss, wieder arbeiten gehen darf, zurück in ein Umfeld, wo er sich sicher fühlt.

OÖN: Wie begegnen Sie persönlich dem Weihnachtsstress?

Ötsch: Ich spüre keinen Stress. Ich habe eine Liste mit Geschenken, die ich an einem halben Tag abarbeite. Ansonsten meide ich zu dieser Zeit Ausflüge in die Stadt.

OÖN: Danke für Ihre Zeit!

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