Europäische Identität
Die Europäische Union steckt in einer Sinnkrise. Hat Europa seine Identität verloren? Oder besser gefragt: Was ist die europäische Identität oder gibt es diese überhaupt?
Europa bloß als eine Ländermasse zu definieren, begrenzt durch irgendwelche Wassermassen, Gebirge und Wüsten, wie es uns die Geografen lange Zeit eingebläut haben, gibt ja nicht wirklich Sinn.
Aus der Antike stammt zwar der Name Europa. Doch in dem rund um das Mittelmeer angeordneten römischen Weltreich gab es für Europa keinen politischen Platz. Unsere Europa-Konzeption kommt aus dem frühen Mittelalter, als der kulturelle und militärische Druck des Islam in Süditalien und Spanien immer stärker wurde und gleichzeitig aus dem Osten mit den Awaren, Ungarn und Tataren immer wieder heidnische Reitervölker nach Europa drängten. Kaiser und Papst repräsentierten das christliche Europa. Insofern ist die römisch-deutsche Kaiserkrone mit ihrem großen Kreuz das vornehmste Symbol dieser Europatradition.
Die Aufklärung verdrängte die Religion von ihrem alles bestimmenden Platz. Aber die Menschenrechte, die an ihre Stelle traten, taugen, obwohl sie in Europa konzipiert wurden, nicht für eine europäische Identität. Ihr Anspruch ist weltweit und muss dies auch sein. Im 19. Jahrhundert hatten die Europäer wenig Selbstzweifel. Sie sahen sich als die Träger der weltweiten Zivilisation. Aber heute?
Eine Zeitlang konnte es reichen, die Europäische Union als bloße Wirtschaftsgemeinschaft zu sehen: "Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder irgendeine Doktrin, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos", sagte der amerikanische Außenminister George C. Marshall (Bild), als er vor gut 70 Jahren den Marshallplan als Keimzelle der Europäischen Union aus der Taufe hob. Doch der fatale Beigeschmack des Marshallplans war der Kalte Krieg.
Die EWG und das Comecon in der Wirtschaft, NATO und Warschauer Pakt in der Politik. Ein Eiserner Vorhang durchtrennte Europa. Die europäische Gemeinschaft war eine Mission für Wohlstand, freie Marktwirtschaft und demokratische Liberalität. Inzwischen sind die Freund-Feind-Bilder viel weniger klar geworden. Den Kommunismus als Macht gibt es nicht mehr, das alte Blockdenken ist gegenstandslos geworden, und die USA erscheinen nicht mehr um so viel liberaler als Russland oder gar die bei uns viel geschmähten Visegrád-Staaten. Auch die identitätsstiftende Kraft des Christentums gibt es nicht mehr, weil dieses sich zu Recht als Weltreligion versteht und in Europa an Auszehrung leidet. Aber die christlich geprägte Alltagskultur und Zivilisation sind immer noch jener Kitt, der Europa zusammenhält und von seinen Nachbarn in Asien und Afrika abgrenzt.
Roman Sandgruber ist emeritierter Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz.
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