Die 100-Jährige, die noch auf Reisen ist: "Mein Geheimnis ist, nicht zu sterben"

Wenn Hildegard Kestler den Raum betritt, richten sich alle Augen auf sie. Das ist jeden Donnerstagvormittag so, wenn sie ins Linzer Spitz-Hotel geht. Beim "Morning Chat" der Österreichisch-Amerikanischen Gesellschaft hält die 100-Jährige ihr Englisch in Schuss. Seit Jahrzehnten.

Die oft bewundernden Blicke mögen ihr schmeicheln, doch die am 14. Februar 1917 in Wels geborene Kestler fühlt sich nur als "ganz gewöhnliche, ältere Dame". Eine Dame, die nicht aussieht wie eine 100-Jährige und die Wert auf ihr Äußeres legt. Die Bluse mit Blumenmuster passt zur weißen Hose, die cremefarbenen Schuhe mit Absatz sind farblich auf die Ledertasche abgestimmt. Die Perlenkette schmückt. Die Fingernägel sind lackiert.

Englisch statt Wandern

Die aktive, seit ihrer Volksschulzeit in Linz lebende Kestler ist immer unterwegs. "Ich spaziere jeden Tag in die Linzer Innenstadt, um in Bewegung zu bleiben."

Jeden Donnerstag trainiert sie ihr Gehirn. Da spricht sie Englisch. Beim wöchentlichen Treffen der Österreichisch-Amerikanischen Gesellschaft. Zuvor war dieser Tag dem Wandern gewidmet. Da war sie regelmäßig auf Tour mit dem Alpenverein, wie Kestler erzählt. Die Berge waren immer ihre Leidenschaft, als Geräteturnerin hat sie 54-jährig das Sportabzeichen erturnt. Ist das Aktivsein, der Sport, ihr Geheimnis dafür, dass sie so alt geworden ist? Nein, sagt die 100-Jährige den OÖNachrichten: "Mein Geheimnis ist, einfach nicht zu sterben."

Seit 53 Jahren Witwe und kinderlos – "der Zweite Weltkrieg hat alles ruiniert" – kam Kestler nach Kriegsende erstmals mit der englischen Sprache in Berührung.

Die Leiterin eines Personalbüros stand plötzlich ohne Arbeit da. Ihr Glück. "Wie aus dem Nichts habe ich eine Stelle als Sekretärin eines russischen Attaché bekommen." Blut habe sie am Anfang ihrer neuen Tätigkeit geschwitzt, weil gute Englischkenntnisse verlangt waren. Sie verstand aber anfangs kein Wort Englisch.

Das sollte sich ändern. Sie lernte rasch dazu und schon bald schrieb sie die Texte schneller als ihre amerikanischen Kolleginnen. Ein US-Offizier der Besatzungstruppen holte sie in sein Team. Zehn Jahre lang übersetzte sie für ihn Texte. Später war sie als Chefsekretärin bei den Stickstoffwerken Linz vor allem mit der Planung von Geschäftsreisen beschäftigt. Das kam ihr entgegen, weil sie auch privat viel in der Welt unterwegs war. Ihre Reisen führten sie in den Iran, nach Marokko, Thailand, Jamaika und auch nach Japan – meistens alleine.

Diese Reiselust ist ihr auch im hohen Alter nicht verloren gegangen. Erst vor einer Woche war sie auf einer Opernreise in Turin. Diese Liebe zur Kultur hat sie von ihrem Mann. "Er lebte für die Malerei und die Musik", sagt Kestler. Ihr Mann wurde nur 55 Jahre alt...