Alltagsdinge: Der Osterspaziergang
Es ist wohl das schönste Ostergedicht: der Osterspaziergang aus dem ersten Teil von Goethes Faust-Tragödie: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, Im Tale grünet Hoffnungsglück; Der alte Winter, in seiner Schwäche, ...
Es ist wohl das schönste Ostergedicht: der Osterspaziergang aus dem ersten Teil von Goethes Faust-Tragödie:
„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche, zog sich in rauhe Berge zurück ...
Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden ...“
Mit dem Ende des Winters kommt wieder die Zeit zum „Lustwandeln“, wie die Sprachreiniger für das aus dem Lateinischen kommende „Spazieren“ gerne zu sagen pflegten. Den Spaziergang zu loben, war zu Goethes Zeit geradezu revolutionär: Die Bauern und Handwerker hatten wenig Verständnis für das ziellose Spazierengehen und sahen in der „Spazierwut“ bloß einen Bruder des Müßiggangs, der den Beutel krank mache. Die Denker der Aufklärung hingegen erkannten darin ein Stück Befreiung: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“, jubiliert Faust beim Osterspaziergang.
Intellektuelles Gehen
Der Spaziergang ist zum Symbol der modernen Intellektualität geworden. Man begann über Aufklärung, Freiheit und kreatives Denken in Begriffen des Gehens und der Geherziehung zu reden. Man kann auf den Philosophen Immanuel Kant verweisen, der zwar nie aus seinem Königsberg hinausgekommen ist, aber mit seinem „Gehen ist Freiheit“ den berühmtesten Aufruf zum Sprengen von territorialen und denkerischen Grenzen geliefert hat.
Rousseaus Denkweise
Jean Jacques Rousseau konnte nur beim Gehen denken: „Das Gehen an sich hat etwas ungemein Anregendes und belebt meine Gedanken. Am selben Platz verharrend, bin ich beinahe unfähig zu denken“, schrieb er 1782 in seinen „Bekenntnissen“. Und Johann Gottfried Seume prägte in seiner berühmten, in vielen Auflagen verbreiteten „Fußreise nach Sizilien“ den Satz: „Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“
Die in die Natur gehenden Romantiker grenzten sich von den spießigen Stubenhockern ab. Der Verzicht auf das Reittier, den Wagen oder die Sänfte wandelte sich vom Ausdruck der Armut zur Demonstration republikanischer und bürgerlicher Autonomie: „Zu Fuße! da ist man sein eigener Herr!“ Der Wiener Arzt und Begründer der modernen Hygiene und Arbeitsmedizin Johann Peter Frank fügte in sein 1779 erschienenes „System einer vollständigen medizinischen Polizei“ auch ein Kapitel über die „Nöthige Beförderung des Spazierengehens“ ein.
Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gehören Promenieren und Spazieren nicht nur zur Kultur der Freizeit und des Urlaubs, sondern sind zum Symbol der Freiheit der Bürger und zu einer wichtigen Stütze des Fortschritts und der Regenerationskraft unserer Gesellschaft geworden.