Steyr, ein Hallstatt ohne Chinesen
Die Steyrer Autorin Karin Fleischanderl über ihre Heimatstadt und die Menschen in der Region.
Die Steyrer sind Landbewohner, keine Städter. Sie schätzen das Land-, nicht das Stadtleben. Wenn auch immer das Wetter es erlaubt, schwärmen sie aus in die zugegeben wunderschöne hügelige Umgebung, radeln über Dam- und Schwarzberg, schnüren die Wanderschuhe, schnallen die Ski aufs Autodach und fahren nach Hinterstoder. Die Umgebung bietet ihnen den schönsten Vorwand, aus der Stadt zu flüchten und sich freizeitmäßig oder sportlich zu betätigen. Sie bevölkern die Ausflugslokale, trinken Most, essen Grammel- und Hascheeknödel und genießen den Ausblick, der an klaren Tagen auf der einen Seite bis zum Traunstein und auf der anderen bis ins Mühlviertel reicht.
Die Stadt, ihre ebenfalls wunderschöne Stadt mit ihren mittelalterlichen und barocken Bauten, die – wie auf alten Fotos zu sehen – bis in die Nachkriegsjahre eine richtige Stadt war, ein Marktplatz mit gut besuchten Geschäften, vollen Lokalen und Gastgärten, mit regem Treiben auf Straßen und Gassen, lassen sie dabei links liegen.
Wenn die Steyrer etwa nach einem Studienaufenthalt in ihre Stadt zurückkehren, tun sie dies nicht, weil ihnen die Stadt, sondern weil ihnen die Umgebung so gut gefällt. Die Laster, die sie sich während ihres Studiums in Wien oder Graz angewöhnt haben, etwa bis in die Morgenstunden in Beisln herumzusitzen oder Geld beim Shoppen auszugeben, geben sie dabei schon auf der Rückfahrt auf, kaum zu Hause angekommen, schwingen sie sich aufs Rad, schnüren die Wanderschuhe oder schnallen die Ski aufs Autodach. Sie kaufen sich ein Haus am Stadtrand, weil sie, wie sie sagen, zu ihrem Glück unbedingt einen Garten brauchen, in dem sie dann nie anzutreffen sind, weil sie, kaum scheint die Sonne, mit dem Rad auf den Damberg fahren, wandern oder zum Skifahren nach Hinterstoder unterwegs sind.
Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Ist die Steyrer Innenstadt so entvölkert, stehen so viele Lokale am Grünmarkt, in der Enge, ganz zu schweigen von dem ehemals vitalen Stadtteil Steyrdorf, leer, weil sich niemand für das Urbane interessiert, oder interessiert sich niemand für das Urbane, weil die Stadt kaum noch urbane Qualitäten aufweist? Die Stadt Steyr ist zur Kulisse geworden, zu einem Hallstatt ohne Chinesen, dafür aber mit vielen Radlern, die auf ihren E-Bikes an einem Tag halb Oberösterreich durchqueren, am Stadtplatz kurz Halt machen und einen Kaffee trinken.
Zugegeben, in meiner Jugend war es noch schlimmer. Da gab es zwar weniger Leerstand, andererseits jedoch so gut wie keine Lokale, die man am Wochenende, während der Großteil der Steyrer radelnd, wandernd oder skifahrend unterwegs war, besuchen hätte können. Selbst der Friedhof war stärker frequentiert als die Steyrer Innenstadt.
Steyrer, lasst eure Radln, eure Wanderschuhe und Ski mal einen Tag im Keller und besucht stattdessen ein Konzert, eine Lesung, eine Ausstellung, ein Café in der Stadt!
Karin Fleischanderl ist in Steyr aufgewachsene Autorin, Übersetzerin und Chefin des Literaturfestivals Steyr.