10 Jahre Lehman-Pleite: Finanzsystem hat sich nicht verändert

Von Walter Ötsch   15.September 2018

Der Untergang des Bankhauses Lehman markiert den Höhepunkt der größten Finanzkrise seit den 1930er-Jahren. Eine Woche davor gingen in den USA zwei große Finanzinstitute zugrunde, bei denen die meisten US-Kredite für Hauskäufe gebündelt waren. Einen Tag später war AIG pleite, die größte Versicherung der Welt. In der Woche danach brach der Interbankenmarkt fast vollständig zusammen – das ist das Rückgrat des Finanzsystems. Hier finanzieren sich Banken untereinander, um immer flüssig zu bleiben. Wieder eine Woche später begann eine Talfahrt an vielen Börsen, manche verloren bis Jahresende 40 bis 50 Prozent.

In Panik mussten Investoren ihre Finanzpapiere verkaufen. Die Folge war eine Verwerfung auf den Devisenmärkten, die Kurse spielten verrückt. In den USA brachen alle kreditfinanzierten Teile des Volkseinkommens ein, wie die Kredite für Investitionsvorhaben und für Autokäufe, ähnlich in Europa. Die europäischen "Südstaaten" mussten ihr kreditfinanziertes Wachstumsmodell (das vorher erfolgreich gewesen war) abrupt beenden. Sogar der Welthandel ging deutlich zurück.

Die Folge war eine globale Wirtschaftskrise 2009. Im Euroraum fiel das Volkseinkommen um über vier Prozent – seit 1945 hatte es das nicht gegeben. Im Schock des Herbstes 2008 entstand mit den G20 eine neue globale Instanz. Auf den ersten Sitzungen wurde versprochen, alle Finanzmärkte und alle Finanztitel neu zu regeln.

Trotz vieler Debatten und einiger Maßnahmen hat sich aber die Struktur des Finanzsystems nicht wesentlich verändert. Alle Bedingungen für eine neue Krise sind aufrecht. Die wichtigste Auswirkung der Krise 2008 fand allerdings nicht in der Wirtschaft, sondern in der Politik statt. Von einer ratlosen Wirtschaftstheorie alleingelassen, haben es die Politiker in keinem Land geschafft, der Bevölkerung in einfachen Worten zu erklären, warum es die Finanzkrise gegeben hat – eine derartige Erklärung ist möglich, das historische Vorbild ist der US-Präsident Franklin D. Roosevelt in der Weltwirtschaftskrise.

Aber 2008 und später wurde nicht wirklich gesagt, wer an der Krise Schuld trägt, warum die Bankenrettungen notwendig waren und was man anders machen werde, um in Zukunft Ähnliches zu verhindern. Vor allem in den USA hat sich die Politik (auch nicht unter Obama) nicht gegen die Wall Street positioniert. Es wurde fast kein Finanzmanager angeklagt.

Die Krise nicht erklärt

Die Krise nicht zu erklären, hatte Folgewirkungen auf die Stimmung in der Bevölkerung. Jahrelang war in den Medien von Krise zu hören. Man las von Summen jenseits des Vorstellungsvermögens: Wie kann man sich 1000 Milliarden Euro vorstellen? Aber über solche Vorgänge muss sich jeder einen Reim machen.

Zwei Gedanken – oder eher Stimmungen – sind plausibel: Die Politik hat das Finanzsystem nicht mehr im Griff, und: Wir werden die Zeche zu zahlen haben. Beide Ahnungen sind grundsätzlich richtig. Denn die Krise war hausgemacht. Sie trat im Kern des globalen Finanzsystems auf, die Folgen konnten nicht an die Peripherie verlagert werden wie bei der Asienkrise 1997/98 oder der Mexikokrise 1994/95.

Nach 2008 mehr Ängste

Die Folge war nach 2008 eine dumpfe, nicht artikulierte Stimmung in der Bevölkerung. Dabei sind unbemerkt Ängste gestiegen, vor allem, wie das in Zukunft weitergehen soll. In dieser Stimmung ist der Rechtspopulismus groß geworden, die vielen Flüchtlinge im Jahre 2015 waren nur der Auslöser, aber nicht die Ursache.

Ein zweites Moment kam hinzu: die Art, wie die EU nach 2009 auf die steigenden Staatsschulden reagiert hat. Die Ursachen liegen in der Entwicklung ab 2008, vorher hat es nicht wirklich ein Problem gegeben. Aber nach 2009 hat man die Finanz- und Wirtschaftskrise ausgeblendet und getrennt davon nur auf die Schulden der Staaten geschaut. Hier wurde klar gesagt: "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt." Das wurde gegen "die faulen Griechen" und den Sozialstaat eingesetzt – in ganz Europa. In Griechenland wurde mit Brutalität das Land zu fast zehn "Sparpaketen" gezwungen und der Sozialstaat zerstört.

Abenteuerliche Kennziffer

Ausgerechnet im Krisenjahr 2009 hat die EU-Kommission die Maastricht-Kriterien verschärft und auf eine neue Kennziffer umgestellt ("strukturelles Defizit"), die unter abenteuerlichen Annahmen berechnet wird. Auf dieser Basis wurde 2013 der "Fiskalpakt" von fast allen EU-Ländern unterschrieben. Bei den meisten Staaten steht er jetzt in Verfassungsrang. Damit ist "auf ewig" ein Automatismus installiert, der bei guter Wirtschaftslage kein Problem darstellt. Aber ein neuer Konjunktureinbruch kann fatale Folgen haben. Dann sind Konjunkturpakete wie im Jahre 2009 (und wie das die USA seit Jahrzehnten erfolgreich praktizieren) nicht mehr erlaubt.

Möglich ist ein Szenario wie in Griechenland: Wenn die Wirtschaft zurückgeht, muss das Budgetdefizit zwangsläufig steigen, worauf ein merkbares "Sparpaket" geschnürt werden muss – darauf haben sich alle Länder verpflichtet –, was die Wirtschaft weiter schrumpfen lassen kann.

 

Walter Ötsch war Professor an der JKU und ist jetzt Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte am Institut für Ökonomie der Cusanus Hochschule (Deutschland)

 

10 Jahre Lehman-Pleite

Fiskalpakt: Als Antwort auf die Schuldenkrise beschlossen die EU-Staaten 2012 den so genannten Fiskalpakt, der die Maastricht-Kriterien zusätzlich verschärfte. Eine Schuldenbremse ist jetzt Pflicht.

SSM: Der Einheitliche Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism, SSM) bezeichnet das System der Bankenaufsicht in Europa. Er ist als Reaktion auf die Finanzkrise im Herbst 2014 eingeführt worden.

 

> Video: Am 15. September jährt sich die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers zum zehnten Mal. Es war der Beginn einer Weltwirtschaftskrise, deren Folgen bis heute spürbar sind.

 

US-Alleingänge als Bedrohung für das Finanzsystem

Zehn Jahre nach Lehman blickt der ehemalige Generaldirektor der Eurogruppe, Thomas Wieser, mit Besorgnis nach Amerika. „In den USA wird wieder mehr an regulatorische und wirtschaftspolitische Alleingänge geglaubt. Das wird unweigerlich zum Schaden aller führen“, sagte Wieser bei einer Gesprächsrunde anlässlich des zehnten Jahrestages der Lehman-Pleite.

Die Ursachen der Krise lagen laut FMA-Vorstand Klaus Kumpfmüller im ungesunden Wachstum im Finanzsektor, in Österreich habe sich etwa die Bilanzsumme der Banken von 2000 bis 2008 von 500 auf 1000 Milliarden Euro verdoppelt. Außerdem gab es wenig Transparenz über Risikopositionen und viel zu wenig Eigenkapital.

Banken wesentlich stabiler

„Es sind die richtigen Lehren gezogen worden“, sagte Kumpfmüller. So hätten etwa die Banken ihre Kapitalquoten von sieben auf 15 Prozent erhöht und es gebe viel mehr Transparenz. Auch gebe es internationale Zusammenarbeit zwischen Regulatoren und Aufsichtsbehörden. „2008 wäre heute von den österreichischen Banken verkraftbar“, sagte Kumpfmüller. Wurde 2008 fast das ganze Kapital ausgelöscht, würde es jetzt auf etwa 7,5 bis 8 Prozent fallen.