Vom sowjetischen Atomtestgelände zur Eisbären-Insel
BELUSCHJA GUBA. Bis zu 52 Polarbären machen den Menschen der russischen Inselgruppe das Leben schwer.
Seit Wochen wird die russische Inselgruppe Nowaja Semlja von bis zu 52 Eisbären heimgesucht. Sogar der Notstand wurde deshalb ausgerufen. Da der Abschuss der Bären nicht erlaubt ist – sie sind auch in Russland geschützt –, versuchen Experten seit Tagen, sie zu vertreiben. Ob ihre Aktivitäten ("Mit Geräten Lärm machen") Erfolg haben, ist unklar. "Die Bären dürften weniger geworden sein. Aber wir können sie wegen anhaltenden Schneesturms nicht zählen", sagte ein Vertreter der Ortsbehörde.
Einige Bären seien extrem aggressiv, klagt Bürgermeister Schiganscha Musin – sie würden die Menschen im Dorf "regelrecht jagen". Er lebe seit 1983 auf der Insel, aber eine "Invasion" so vieler Bären habe er noch nie erlebt. Beluschja Guba ist mit knapp 2000 Einwohnern die größere von nur zwei menschlichen Ansiedlungen der Inselgruppe im nordöstlichsten Winkel Europas. Das Dorf besteht aus wenigen Wohnblöcken, einer Schule für 500 Kinder, einem Kindergarten, drei Hotels, Fernseh- und Radiostation, einer orthodoxen Kirche und einem Militärkrankenhaus.
Atomtest "Zar-Bombe"
Die Ureinwohner, Nenzen genannt, hatten vom Fischfang und der Jagd auf Polarfüchse und eben Eisbären gelebt – bis es verboten wurde. Später erlangte der Archipel strategische Bedeutung für die Sowjetunion. Der Codename lautete "Objekt 700" und stand für die Insel, auf der die Atomtests der UdSSR durchgeführt wurden. Bis 1990 zündeten die Sowjets dort 130 Atombomben. Am 30. Oktober 1961 warfen sie aus einer umgebauten Tupolew die Wasserstoffbombe AN602, Spitzname "Zar-Bombe", ab: 27 Tonnen schwer, acht Meter lang, zwei Meter im Durchmesser und mit einer Sprengkraft von 58 Megatonnen – 4000-mal so stark wie die Hiroshima-Bombe.
Die Spätfolgen der Explosionen wurden nie untersucht. Laut verschiedenen Berichten wurde in den Gewässern rund um die Inseln tonnenweise radioaktiver Müll verklappt.
Die Menschen auf der Insel führen ein karges Leben. Und jetzt müssen sie auch noch den Eisbären trotzen. Schuld für das massenhafte Auftreten dürfte die beschleunigte Eisschmelze in der Arktis infolge des Klimawandels sein. So wird vermutet, dass die Tiere dadurch mehr Zeit an Land verbringen und sich dort einen Wettstreit um Nahrung liefern.
Ein Lockmittel ist auch der Müll
Sicher ist aber auch, dass es neben den schwindenden Eisschollen noch einen anderen Grund gibt, an Land zu kommen: Menschliche Abfallhalden machen ihnen dort die Nahrungssuche besonders einfach. "Bis 2020 planen wir, alle Mülldeponien vollständig zu beseitigen und eine Verbrennungsanlage zu bauen", verspricht ein Vertreter der russischen Behörden. "Wenn man den Müll loswird, wird man auch die Eisbären los", ist Jon Aars vom Norwegischen Polarforschungsinstitut in Tromsø überzeugt. Aber noch ist es eben nicht so weit.
Wie das?
Dachte die Eisbären sind klimaerwärmungsbedingt längst alle ertrunken.