„Tief in dir spürst du Stalingrad“

Von Von Stefan Scholl   08.Mai 2010

Am wenigsten hat sich die Steppe geändert. Grau, endlos, weiß punktiert von den letzten Schneeresten. Die Steppe zwischen Don und Wolga. Auch der russische Geschäftsmann, der im Flugzeug neben mir sitzt, hört auf, von den Vorzügen deutscher Biobrennstoffe zu schwärmen. „Nichts für ungut.“ Er blickt nachdenklich aus dem Fenster. „Aber was wollten die Deutschen hier?“

 

Damals hieß Wolgograd Stalingrad. Damals, 1942/43, als hier die blutigste Schlacht des 2. Weltkriegs tobte.

Die Zuckerbäckerarchitektur im Stadtzentrum ist charmant. Die Jugend der Einmillionenstadt hat die „Allee der Helden“ in „Quadratik“ umgetauft, hier treffen sich abends die Skateboarder. Im „Grand-Cafe“ daneben kauern Yuppies über Notebooks und trinken Cappuccino. Der Krieg ist seit 65 Jahren vorbei. Und doch noch da. „Du arbeitest, du lebst in dieser Stadt“, überlegt Stanislaw, ein junger Baumanager, „aber irgendwo tief in dir spürst du Stalingrad.“

Am Wolga-Ufer sind langbeinige Rollschuhläuferinnen unterwegs. Im Herbst 1942 wehrten sich an diesen Uferhängen die sowjetischen Verteidiger gegen die deutschen Stoßtrupps der 6. Armee. Eines der wenigen Gebäude, die die Schlacht überstanden, ist die Mühle neben dem Panorama-Museum, eine durchlöcherte ziegelrote Ruine. Keine 100 Meter weiter, im Büro des Wolgograder Veteranenverbandes, trinken zwei weißhaarige Offiziere grünen Tee. Nur noch wenige Teilnehmer der Schlacht leben, viele von ihnen wohnen in Wolgograd. Das ist kein Zufall.

„Auf dem Vormarsch, in Ungarn, habe ich zufällig erfahren, dass alle Kursanten der Offiziersschule, an der ich gelernt habe, hier umgekommen sind“, sagt Gardeoberst Anatolij Koslow, der bei der Einkesselung der 6. Armee mit- kämpfte. „Nach dem Krieg bin ich hierher gezogen, um mehr über ihr Schicksal zu erfahren.“

Oberstleutnant Wladimir Ananjew neben ihm, ein gebürtiger Stalingrader, diente als Pionier am Südrand der Stadt. „Als Stalin zum Jahrestag der Oktoberrevolution über das Radio verkündete, auch auf unseren Straßen werde bald gefeiert, da spürten wir, die Wende ist nah.“

Eine riesige Skulptur

Wenige Tage nach dieser Rede zerschlugen sowjetische Panzertruppen in deutscher Blitzkriegsmanier die dünnen rumänischen Flanken der 6. Armee und kesselten 250.000 Deutsche ein. Das wurde zu Hitlers militärischem Supergau.

Nicht viele Städte werden so von der eigenen Geschichte überragt wie Wolgograd. Auf dem Mamajew-Hügel wuchtet „Mutter Heimat“ ein riesiges Schwert in die Luft. Die gesamte Skulptur misst in der Höhe 108 Meter, das sind 15 Meter mehr als die New Yorker Freiheitsstatue. Unter ihren Zehen lassen sich winzige Hochzeitspaare fotografieren.

Den 65. Jahrestag des Sieges wird Wolgograd bescheiden begehen, mit Phantasie und Straßentheater: Am Bahnhof empfangen junge Frauen in der Kleidung der Kriegszeit mit Blumen einen Zug, voll mit heimkehrenden Rotarmisten. Eines der Konzerte an diesem Tag heißt „Lasst uns singen, Freunde“. Auch ein deutscher Chor nimmt daran teil.

Stalingrad hat sich in das Bewusstsein der Überlebenden eingebrannt. „Ich würde gerne mit deutschen Veteranen reden“, überlegt Veteran Koslow. „Was haben ihre Piloten gedacht, als sie die Flüchtlingskolonnen in der Steppe zusammenschossen?“ Und Maxim Sagorulko, Historiker und Panzersoldat, sagt: „Meine Seele hat nie lauter gejubelt, als an dem Tag, an dem ich den ersten feindlichen Panzer abgeschossen habe.“ Bei Stalingrad verlor jede Seite eine halbe Million Soldaten. Und noch immer ist ungeklärt, wie viel Zivilisten umkamen, mehrere hunderttausend sind es auf jeden Fall. Ältere Wolgograder erzählen, nach der Schlacht seien Fahrdämme aus gefrorenen Leichen gebaut werden.

An der Wolgograder Akademie für Öffentlichen Dienst eröffnen die Studenten während meines Besuches eine Ausstellung mit Kinderfotos: Lebensfrohe, neugierige Kindergesichter, auch die jungen Fotografen lachen. Als nächstes wollen sie Kriegsveteranen ablichten. Andrej, Reporter des Studentenradios, denkt über die Deutschen nach: „Das Volk konnte nichts dafür. Das bekam Befehle und musste gehorchen. Schuld an der Katastrophe war das Regime.“

Wolgograd hat nicht vergessen, aber verziehen. Auch Veteran Ananjew holt lächelnd Fotos von seiner Zeit als Besatzungssoldat in Deutschland hervor. Und er sagt: „Eure Mädchen haben mir das Tanzen beigebracht.“