Gang durch New Orleans

Von Ferdinand Kaineder   17.Dezember 2011

Let New Orleans find you!, lese ich auf der Innenseite der WC-Tür im Musik-Café „The Spotted Cat“ in der Frenchman Street gleich am zweiten Tag. Das trifft meine innere Haltung, mit der ich aus dem Flugzeug steige und nicht weiß, wo ich schlafen werde. Ich habe keinen Plan. Es ist viel Platz für „Surprise“. Eine große innere Neugierde und eine empathische Offenheit für die Menschen sind der Ausgangspunkt, diese einzigartige Stadt sechs Jahre nach Hurrikan „Katrina“ kennenzulernen. „Gehe nicht nach Amerika, gehe nach New Orleans“, hat mir ein Freund geraten.

Diese Stadt ist einzigartig. Mein Interesse gilt dem Wiederaufbau, der Musik und der Widerstandskraft dieser Menschen, mit Katastrophen wie „Katrina“ und „Gustav“ (2008) umzugehen.

Die Füße und öffentliche Verkehrsmittel sind meine Transportmittel, die Augen und Ohren mein Wahrnehmungs-Radar und die einzelnen Gespräche zeigen mir diese besondere Stadt „von unten und von innen“.

„Meine Frau wollte damals nicht weggehen, weil sie zeitlebens im Lower 9th Ward gewohnt hat. Sie ist im Wasser umgekommen. Ich habe das Haus und Business verloren“, erzählt mir Wayland W. auf der Fahrt mit dem Bus in das von „Katrina“ am meisten betroffene Gebiet. 80 Prozent des Stadtgebietes standen vor sechs Jahren unter Wasser.

„Hier war der Wasserspiegel bis zu sechs Meter hoch. Durch den Bruch des Dammes ist das Wasser hereingeschossen und hat viele Häuser einfach weggerissen“, schildert Wayland mit müder Stimme. Er selber war damals auf Montage in Texas. Erst vor vier Monaten ist er aus Oklahoma wieder in seine Stadt zurückgekehrt. Er ist auf Arbeitssuche. Ungefähr 150.000 Menschen fehlen New Orleans auf die Einwohnerzahl vor „Katrina“. Viele Häuser wurden nach der Zerstörung „weggeräumt“ oder sind noch immer unbewohnt. 50.000 Häuser sind zu reparieren, damit sie bewohnt werden können.

Im Center Austria an der University of New Orleans treffe ich den Innsbrucker Studenten Christian S., der wie etwa 100 andere Studierende aus Österreich diese Brücke nach New Orleans für ein Jahr nützt. Er hat für seine Masterarbeit zur Thematik des Wiederaufbaues ein Stipendium bekommen. „Die Armen und Schwarzen sind aus der Stadt hinausgeschwemmt worden. Die Stadt ist weißer und älter geworden. War früher der Anteil der Schwarzen bei 70 Prozent, so liegt er jetzt bei 60 Prozent“, weiß Christian.

Diese Stadt braucht die Musik

Christian zeigt mir eine Liste von über zehn größeren Organisationen, die am Wiederaufbau arbeiten. International am bekanntesten sind die „Brad Pitt Häuser“ im Rahmen der Wiederaufbauorganisation „Make it Right“. Tags darauf suche ich diese Häuser. Sie stehen auf dem Gelände, wo der Damm gebrochen ist. Jedes Haus ist mit individueller Architektur errichtet.

Erstmals sehe ich Solarzellen auf den Dächern. Ich klettere auf den etwa sechs Meter hohen, neu betonierten Damm. Es beschleicht mich ein Gefühl der Aussichtslosigkeit, weil es nach meiner Zählung erst etwa 40 Häuser sind, die errichtet wurden. Ein Bewohner zeigt mir voller Stolz sein Haus und weist gleichzeitig auf vier Baustellen in Sichtweite hin: „Es geht etwas weiter.“ Viel zu wenig, denke ich am Weg zum Bus am Damm entlang. Dort sagt mir ein älterer Herr recht gelassen: „Es wird noch Jahre dauern, bis hier wieder neues Leben einzieht“. Sein Finger zeigt auf einen stillgelegten Gebäudekomplex, der einmal Schule war.

Gärten als Gemeinschaftsbildner

Wo sind die neu aufkeimenden Communities, gemeinsam gestaltetes Leben, funktionierende Nachbarschaftsstrukturen? Einzelne Menschen haben mir erzählt, dass es gemeinsam betriebene Gärten gibt. In Mid City finde ich einen Garten der „NOLA Green Roots“. Der Zufall will es, dass gerade an diesem Tag Direktor Joseph Brock hier arbeitet. Voller Stolz zeigt er mir das Gemüse, zeichnet die Struktur auf eine Tafel und erklärt mir geduldig: „Jede der acht Gartengemeinschaften arbeitet selbstständig, bekommt Unterstützung und wird von uns organisatorisch betreut. Normale Mitglieder arbeiten wöchentlich, andere bezahlen einen höheren Mitgliedsbeitrag, weil sie nicht die Zeit haben. Da gibt es klare Regelungen. Die Körbe mit Gemüse und Obst werden über NOLA über das Internet abgerechnet.“

Er zeigt mir die Datenbank auf seinem Smartphone: „Das geht ganz professionell. Einige Restaurants gehören ebenfalls zu den Abnehmern. Immer öfter liefern Restaurants ihren organischen Abfall und bezahlen dafür, dass er im Garten kompostiert wird.“ Ich bekomme ein T-Shirt mit der Auflage, „dass ich ein Foto aus Österreich schicke, auf dem ich es trage.“ In „Algiers Point“ südlich des Mississippi stoße ich wieder auf so einen Garten, in dem auch Hühner gehalten werden. Eine wunderbare Art, Menschen zu vernetzen und zu gesunder Ernährung zu führen.

Musik beseelt die Stadt

Fast jeden meiner 28 Abende verbringe ich im Viertel „French Quarter“ und hier im Musikereck „Frenchman Street“. Dort sind jene Musik-Cafés und Bars, wo jeden Abend Live-Musik gespielt wird. Jazz, Blues, Rock, Dixie, Zydeco und Balladen sind die Stichworte. Die Musiker leben von den „Gifts“ (Trinkgeld) und dem Verkauf der eigenen CDs. Sie kennen einander und wohnen in New Orleans. „Ich bin vor drei Jahren von Chicago hierher gezogen“, erzählt mir Bratt, der normalerweise klassischer Pianist ist. „Austria? – Ich war beim Free Jazz Festival in Velden auf der Bühne“, meint ein Posaunist. „Im Sommer ist es hier so heiß, dass viele nach Europa auf Tournee gehen.“

Mich begeistert und beseelt die Atmosphäre. Unkompliziert, herzlich, gesprächsfreudig und Musik mit viel Leidenschaft und Spontaneität. Die Leute kommen und gehen. Kein Zwang. Touristen aus aller Welt. Eine Mitbewohnerin im Hostel bringt es auf den Punkt: „Hier habe ich das Gefühl, dass die Musik von innen heraus kommt.“ Ich stimme ihr zu.

Musik wird auch auf offener Straße gemacht. Immer wieder beobachte ich, dass zwei oder drei beginnen und binnen kurzer Zeit musiziert eine ganze Gruppe getragen von einem Grundrhythmus und der Improvisation. „Die Musik hat der Stadt die Lebensfreude zurückgebracht“, weiß Canny, der Besitzer des India Hostel. Er hat mir ausführlich geschildert, wie es war, als kein Strom da war. Die Nacht war rabenschwarz. Kein Vogel und kein Hund zu hören. Die Musik war fort. Für ihn war es die „radikalste Reflexion“ seines Lebens.

Bei meinen Begegnungen im neu errichteten „Musician’s Village“ wurde mir klar: Diese Stadt braucht die Musik wie wir die Luft zum Atmen. Die Häuser dort ermöglichen jenen Musikern billige Unterkünfte, die sie durch die Katastrophe verloren haben.
Schon die ersten Tage meines Aufenthaltes sind geprägt von Fest und Festival. Tausende Amerikaner kommen zu Halloween in die Stadt des „big easy“, der Leichtigkeit und Lebensfreude. Neidlos wird anerkannt, „dass New Orleans die Hauptstadt des Feierns ist.“ Ich spüre keine Lust, mich zu verkleiden. Damit gehöre ich in der Bourbon Street allerdings zur Minderheit. Tausende verkleidete Monster in unterschiedlichsten Formen bevölkern den „Ballermann des Mississippi-Deltas“. Ich empfinde die Stimmung nicht aufgesetzt. Mit Fortschreiten des Alkoholkonsums wird alles „spannender“.

Am nächsten Tag erfahre ich, dass eine Schießerei mit einem Toten und 15 Verletzten an jenem Platz stattfand, wo ich eine Stunde vorher für mich beschlossen habe: Das ist kein guter Platz für mich. Ein zugewanderter Franzose erzählt mir am nächsten Tag, dass im Hintergrund der großen Feste „Bandenkämpfe“ stattfinden. Es geht dabei wie so oft um das Geschäft. Bis die letzten Masken und Verkleideten verschwinden, vergehen vier Tage. Jetzt kann ich ein wenig erahnen, was es heißt und bedeutet, wenn die Einheimischen immer ganz begeistert von Mardi Gras (Fasching) erzählen. Der dauert vierzehn Tage. „Ist der Anlass noch so klein, wird ein großer Umzug mit einem Fest daraus“, weiß der Priester an der St. Joseph’s Church.

Vicki, die ich über Facebook kennenlernte, meinte: „Unsere Stadt ist mehrheitlich katholisch und feiern können wir.“ Sie hat gerade Stress, weil sie sich entschieden hat, einem neunjährigen Jungen, der mit seinen Adoptiveltern gebrochen hat, eine neue Heimat in ihrer Familie zu geben. Dieses direkte Helfen ist ebenfalls typisch.
„Homeless People“

Immer wieder begegnen mir Obdachlose. Nie aufdringlich, aber immer ein müdes und ausgemergeltes Gesicht. Ich besuche das „Rebuilding Center at St. Joseph Church“. Es ist 10 Uhr vormittags. Etwa 100 Personen sitzen da. Sr. Vera nimmt sich Zeit für mich und meine Fragen. Ich spüre viel Wärme und Empathie, die von den Schwestern und den Freiwilligen ausgeht. „Schauen sie die Menschen an, wie sie da sind, müde, abgeschlagen, ohne Perspektive. Hier erleben sie, dass sie einfach sein dürfen.“
Ich bleibe zum Mittagessen und bekomme eine blaue Essensmarke. Als Letzter stelle ich mich in die Reihe der 225 Personen, die heute Spagetti und Kekse bekommen. Ich sitze demütig und beschämt neben einem Schwarzen, der nach dem Essen die Augen schließt und betet. Beim Verabschieden gehe ich nochmals zu Sr. Vera, danke ihr für das Essen, das Gespräch, diesen Ort und mein Erleben. „Jesus is here.“ Wir umarmen einander und ich habe Tränen in den Augen. Das ist die Kirche Jesu. So war das immer gemeint. Dafür muss sich keiner schämen.

Das Geld kommt von der Kongregation der Schwestern, den Pfarren und privaten Spenden. „Es kommt nichts von der Regierung“, betont Sr. Vera. Schlafen können die Leute hier nicht. Sie bekommen zu essen, können duschen, telefonieren und „einfach dasitzen“. Es geht alles sehr langsam voran. Warum sind die Leute auf dieses Center angewiesen? „Job verloren, Krankheit, jemand ist gestorben, der eine Unterstützung bekommen hat, von der man leben konnte, die Miete konnte nicht bezahlt werden oder Überforderung in einer komplexen Welt“, weiß Sr. Vera.

Werden die Leute hier mehr oder weniger? „Die Wirtschaft geht nieder und so werden es immer mehr.“ Sr. Vera schaut einer Mutter mit einem Baby ins Gesicht und lächelt sie an. „Die Menschen sind geprägt von einem großen Glauben. Das ist religiös gemeint. Sie haben eine große Sensibilität entwickelt, dass es einmal gut ist so wie es jetzt ist. Sie sorgen für sich selber und füreinander. Jobmöglichkeiten oder Wohnmöglichkeiten werden untereinander weitergegeben“, erklärt sie mir.
Zwischen den Baracken ist bewusst viel Grün. Achtung und gegenseitiger Respekt „liegt in der Luft“. So können diese Menschen hier „durchatmen“. Ich denke an jene, die diese Wirtschaft durch ihre Gier und Spekulation kaputt machen. Das wäre ihr „Praktikumsplatz“.

In den Rucksack gepackt

Der Ausflug in die Swamps, das gute Essen aus der Cajunküche und die kreolischen Spezialitäten, die Meditationen am Mississippi, der Wiederaufbau des Vietnam Village ohne Regierungshilfe, die Beschäftigung mit der „Delta-Philosophie“ an der Schnittstelle Wasser-Land, die Anmutung der Friedhöfe, die Besuche der Museen werden wie viele andere Erfahrungen in den Rucksack gepackt und über den Atlantik heimtransportiert. Wer sich vier Wochen in diese Stadt begibt, offene Augen, offene Ohren und ein empathisches Herz mitbringt, wird von dieser Stadt gefunden. Das garantiere ich.

Vortrag mit Bildern am 30. Dezember um 20 Uhr im St. Anna Pfarrzentrum Kirchschlag