Kreml: Kontrolle über das Schachspiel verloren
WIEN. Der russische Soziologe Simon Gdaljewitsch Kordonsky sieht trotz der Proteste in Russland gegen Wahlfälschungen bei der Dumawahl vom Dezember die Wahrscheinlichkeit für einen Umschwung als "sehr gering.
"Es werde aber Änderungen geben in der Struktur der Macht. Diese Macht muss die Aufständischen einkaufen, die Richtung in die der Einkauf geht, wird gerade bestimmt", sagte Kordonsky am Mittwochabend im Gespräch in Wien.
Taktik der Macht
Es werde unter anderem politischen Parteipluralismus geben sowie die bereits angekündigte Wiedereinführung von Gouverneurswahlen, und der Kampf gegen Korruption werde verschärft. Die "Taktik der Macht" bestehe darin, die Unzufriedenheit der Bürger durch dieses Maßnahmen auf Null zurückzuschrauben.
Der aktuelle Bürgerprotest sei ein "Aufstand, keine Protestbewegung", sagte Kordonsky. "In Russland ist es Tradition, wenn sich die Macht nicht entsprechend verhält, kommt es gleich zu einem Aufstand." Die reichen, satten Bürger würden aktuell auf die Straße gehen, weil sie sich ihres Wahlrechts beschnitten fühlten. Auch die geplante Rochade von Regierungschef Wladimir Putin zurück in das Präsidentenamt, das er von 2000 bis 2008 bereits innehatte, habe bei den Bürgern Unmut ausgelöst. "Viele Leute fühlen sich beleidigt. In unserem Staat besteht der Zustand der Beleidigung seit 300 Jahren", meinte der Soziologe ironisch.
Macht hat Kontrolle über das Schachspiel verloren
Der Protest werde sich nach der Reaktion der Macht richten, und dementsprechend zunehmen oder zurückgehen. Extremisten könnten nach Einschätzung Kordonskys für Provokationen sorgen. "Die Macht hat das politische System als Theater betrieben". Vor allem der einflussreiche Kreml-Berater und jetzige Vize-Regierungschef Wladislaw Surkow sei Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler in einem. "Die Leute am Ruder sind Clowns. Der Regisseur hat aber im Kampf der Apparate verloren, die Niederlage hat das ganze Drehbuch durchkreuzt. Die Macht hat die Kontrolle über das Schachspiel verloren", ergänzte Kordonsky.
Für Putin sei durch den "Aufstand" "die Welt zusammengebrochen". Dennoch geht Kordonsky davon aus, dass Putin die erforderliche Mehrheit für die Präsidentenwahl schon im ersten Wahlgang erhalten werde. Das Aufstellen eines chancenreichen Oppositionskandidaten würde mehr Zeit und Medienpräsenz in Anspruch nehmen.
Opposition sind Leute ohne Programm
Aber auch die politischen Kontrahenten sieht der Experte kritisch. "Die Opposition ist keine Opposition. Das sind Leute, die laut sind, aber kein überzeugendes Programm haben." Die Opposition stelle zudem überzogene Forderungen auf. Die Parteientwicklung werde in Russland noch dauern. Parteien müssen Kordonsky zufolge eine bestimmte Wählergruppe repräsentieren. In ein bis zwei Jahren werde sich die gespaltene Opposition aber auf eine Person einigen können. Wenn das System bricht, würden sich neue Führungsfiguren herausbilden. "Das heißt, das System ist noch nicht gebrochen."
Kordonsky ist Soziologe an der Hochschule für Wirtschaft in Moskau und war zwischen 2000 und 2004 Chef der Expertengruppe der Präsidialverwaltung Russlands. Am Mittwochabend hielt er auf Einladung des "International Center for Advanced and Comparative EU-Russia/NIS Research (ICEUR)" einen Vortrag in Wien.