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Rituale – und warum wir ihnen nicht entkommen

Von Von Klaus Buttinger   01.Dezember 2018

Die erste brennende Kerze auf dem Adventkranz ließe sich – übersetzt in Soziologenjargon – so sehen: Eröffnungshandlung für das Jahresendritual in mehr oder weniger christlich geprägten Gesellschaften. Oder mit den Worten von Anne Koch, Kultur- und Religionswissenschafterin an der Katholischen Privatuniversität Linz (siehe Interview unten): "Der Advent ist als Vorbereitung auf das Weihnachtsritual bereits Teil des Rituals und wichtig für die Stimmung."

Wie ein Netz mit unterschiedlicher Maschengröße durchziehen Rituale das menschliche Leben – wöchentlich wiederkehrende wie etwa eine Sonntagsmesse, jährliche Formen wie Weihnachten oder Übergangsrituale wie Firmung, Konfirmation, Heirat, Sponsion oder Begräbnis. Sie sind "geronnene, sedimentierte Wiederholungen", die dem Menschen ein Begreifen der Welt erst ermöglichen, sagt der deutsche Philosoph Christoph Türcke (70).

Der britische Evolutionsanthropologe Harvey Whitehouse (54) von der Universität Oxford geht in seiner Definition noch weiter: Rituale seien Klebstoff für Gruppen, aber auch Konfliktgeber zwischen Gruppen. Sie spiegelten die Evolution der sozialen Komplexität. Teil des Erfolgs unserer Spezies sei die Kooperation, so Whitehouse, und als deren Werkzeuge fungierten die Rituale. Was aber ist ein Ritual genau und was macht es mit uns? Ist das spielerische Zähneputzritual mit den Kindern schon eines?

Wie definiert man Ritual?

Ritualforscher unterscheiden zwischen Ritualen innerhalb und außerhalb des Alltags, Letztere seien die eigentlichen. Sie weisen vier Merkmale auf:

1 Der Körper ist Teil des Rituals. Oft wird er geschmückt, manchmal gequält. Er ist in Bewegung. Die Psychologie weiß heute: Kombiniert man Bewegung und Lernen, bleibt das Gelernte besser im Kopf.

2 Ritualhandlungen weisen oft standardisierte, stereotype Muster auf. Damit sind sie leicht zu übernehmen, bald auch ohne nachzudenken.

3 Überhöhte Handlungen spielen in Ritualen häufig eine große Rolle. Essen und Trinken werden beispielsweise transzendiert.

4 Schließlich geht es bei Ritualen häufig um eine Transformation. Nach der Firmung ist der Bub, das Mädchen (halbwegs) erwachsen, nach der Eheschließung wird aus der Frau eine Ehefrau, aus dem Mann ein Ehemann.

Mit dem Hund zweimal täglich Gassi zu gehen wird in der Soziologieliteratur eher als Alltagsritual eingestuft. Wichtig, insbesondere für den Hund, aber ohne Überhöhung oder Transformation, sofern man den Hundestoffwechsel nicht als solche bezeichnen will. Auch das Zähneputzritual und ähnliche Unternehmungen für Kinder zählen eher zu den Alltagsritualen, ohne schmälern zu wollen, dass sie äußerst erfolgreich in der Erziehungsarbeit eingesetzt werden. Kinder können Rituale erst im Schulalter als solche erkennen. Im Alter zwischen vier und sechs Jahren ahmen Kinder auch sinnloses Tun präzise nach. "Kinder sind Konformisten, sie wollen unbedingt dazugehören", sagt Anthropologe Harvey Whitehouse, der – übrigens – das alljährliche Bootsrennen zwischen den Ruderachtern aus Oxford und Cambridge als vollwertiges Ritual ansieht. Die Überhöhung der Bedeutung fuße auf der langen Tradition des Kräftemessens, meint er.

Das Wertvolle am Ritual definierte einst der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2000): Es bilde ein Vertrauenskapital, dessen Wert in der Stabilisierung sozialer Beziehungen begründet liege. Solche Bindungen geben in der Folge Sicherheit, verhindern bis zu einem gewissen Grad Willkür und Beliebigkeit und machen Sinnfragen weniger wichtig. Beziehung wird Gewohnheit, muss nicht bei jedem Kontakt neu ausverhandelt werden. Kannte man das Zeremoniell in der Religionsgemeinde, bei Hofe oder im Herrenclub, gab dies Sicherheit im Auftritt.

Angenehmer Nebeneffekt für durchritualisierte Menschen: Das Gehirn spart Energie. Es muss nicht über jeden Schritt nachdenken, die akzeptierte, rituell erarbeitete Regeldichte trägt einen durch die Unwägbarkeiten und sichert zumindest teilweise im Falle von Konflikten oder Krisen. Der Preis dafür ist die eingeschränkte Individualität.

Der Wert von Ritualen

Der Wert von Ritualen zeigt sich zudem in deren Vielgesichtigkeit. Beispiel Firmung oder Konfirmation: Der Firmling/Konfirmand erfreut die Eltern, weil er ihre Tradition weiterbedient. Er selbst macht vielleicht nur mit wegen der Geschenke und weil seine Klassenkolleginnen und -kollegen auch dabei sind, und der Pfarrer freut sich über neue Gemeindemitglieder. Alle haben etwas davon. Manche Ritualforscher gehen so weit zu sagen, die Neigung zu Ritualen sei dem Menschen, dem Rudeltier, angeboren, nur die verschiedenen Ausprägungen seien kulturell bedingt.

Untersuchungen der Gehirnchemie bestätigen Effekte durch Ritualtechniken. Musik und Tanz erhöht die Neurotransmitter-Ausschüttung, zuvorderst Noradrenalin. Es werden Gehirnareale aktiviert, welche die Aufmerksamkeit steigern, die Stimmung verbessern oder ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen. Wiederholungen stärken diese neuronalen Verschaltungen.

Rituale und Religion gehen nicht immer Hand in Hand. Laut Edward Shils (1910–1995), US-Soziologe, könne Glaube ohne Rituale existieren, Ritual ohne Glauben aber nicht. Für die Ethnologin Birgitt Röttger-Rössler von der Freien Universität Berlin ist es ein "Irrglaube, dass Rituale nur einen religiösen Bezug haben und in einer rationalen, entzauberten Gesellschaft nicht mehr nötig sind". Rituale markierten zum Beispiel den Schritt in eine neue Lebenssituation. Von der Universität in die Arbeitswelt, vom Single-Dasein in die Ehe, vom Leben in den Tod.

Ja, selbst Politik war und ist Ritual: Fahnenweihe, Mai-Aufmarsch bis hin zu politischem Handeln durch ritualisierte (Schein-)Maßnahmen, wie der US-Politologe Murray Edelman (1919–2001) festhielt. Demnach werde zum Beispiel bewusst auf Debatten gesetzt, die nur den Eindruck erwecken, dass etwas geschieht. Denkt da jetzt jemand an das Kopftuchverbot für Kindergartenmädchen?

 

Woher kommen Rituale eigentlich?

Anne Koch von der KU Linz

Am Institut für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Katholischen Privatuniversität Linz unterrichtet Kultur- und Religionswissenschafterin Anne Koch.

OÖN: Haben sich Rituale aus dem Tierischen entwickelt?

Anne Koch: Es gibt gerade eine interessante Diskussion, ob Tiere schon eine Religion besitzen. Als Beispiel wird eine Beobachtung Jane Goodalls angeführt, wonach Schimpansen vor einem Wasserfall herumhüpfen und Laute der Begeisterung von sich geben.

Kann man das schon ein Ritual oder eine Ur-Religion nennen?

Ich würde den Begriff Religion und Ritual nicht auf diese Beobachtungen anwenden. Das würde unsere Begriffe entwerten, das wäre inflationärer Gebrauch. Es kommt darauf an, wie weit man Rituale fasst. Sich wiederholende Aktivitäten sind eher im weiteren Sinn zu sehen. Auf einem Skript, auf einer Rolle basierende, wiederkehrende Aktivitäten einer Gruppen wären Rituale im engeren Sinn.

Heute wird sehr schnell etwas als Ritual bezeichnet, oder?

Der Ritualbegriff, einst von den Ethnologen in den Diskurs eingebracht, ist popularisiert worden. In allen möglichen Sachbüchern und Lebensratgebern ist er aufgetaucht: Rituale für das Kind zum Schulanfang, Rituale zur Entspannung im Schaumbad. Diese Ratgeber setzten bewusst die Handlungsform des Rituals ein, um an die Wirkung des Rituals heranzukommen, nämlich psychische Stabilisierung und Halt.

Rituale sind also profanisiert worden?

Unbedingt. Wir beobachten, wie insbesonders die Rituale für psychischen Halt herangezogen und dann oft profanisiert oder säkularisiert werden. Etwa die ganzen Psychotechniken aus der Atemmeditation oder diese Achtsamkeitsübungen aus buddhistischer Tradition. Das hat man heute sehr oft in Coachings für Leute in Firmen.

Ist das eine gute oder schlechte Entwicklung?

Das kann man so nicht sagen. Aber sich zu erhoffen, dass Rituale per se etwas stabilisieren, das wäre eine falsche Erwartung. Werte wie Solidarität in einer Gesellschaft werden dadurch nicht ausverhandelt, da braucht es andere Formen – auch wenn es um Konflikte geht. Rituale setzen etwas immer wieder neu in Kraft. Events oder Formen von Protestkultur können sich zum Ritual entwickeln, aber dann sind sie schon wieder verengt.

Wo liegt die Grenze zwischen Ritual und Brauchtum?

Feste weisen vielfach Ritualelemente auf. Der Übergang zum Brauchtum ist fließend. Ist kein wiederkehrendes Skript dabei, legt man vielleicht nur speziellen Schmuck oder Kleidung an, wäre das kein Ritual.

 

Rituale tun mir gut

Mag. Irmgard Lehner leitet als Pfarrassistentin die Pfarre Wels-St. Franziskus.

So manche Tage laufen anders als gedacht – zugegeben: Bei mir gibt es viele solche Tage. Beruflich sind unerwartete Herausforderungen an der Tagesordnung. Ein überraschender Besuch erfreut bis in die späten Abendstunden. Das krank gewordene Kind ist von der Schule abzuholen. Die tollen Ideen für die Weihnachtsvorbereitungen nehmen mehr Zeit in Anspruch. Der Tag ist zu kurz für die Fülle an Vorhaben. Aber es könnte auch sein, dass der Tag langweilig ist, dass niemand anruft, nichts von einem gebraucht wird.

Für mich ist es wesentlich geworden, kleine Rituale in meinen Tagesablauf einzubauen. Ich gehe zum Beispiel jeden Tag ein kleines Stück Weg zu Fuß – das kann ein Arbeitsweg sein oder ein Weg in der Natur. Ein paar Minuten im eigenen Tempo, meinen Körper und meinen Atem wahrnehmen – einfach bei mir sein und dankbar das Leben spüren. Das tut mir rundum gut. Oder auch am Abend den Tag zu beenden mit der Bitte um Segen.

Ein Kreuzzeichen auf der Stirn ist ein christlicher Ausdruck für die vertrauensvolle und stärkende Verbundenheit mit Gott. Mit diesem Zeichen kann ich mich selbst oder auch mein Kind bzw. den Partner/die Partnerin der göttlichen Wirklichkeit anvertrauen.

Rituale sind kostbare Anker, die das eigene Leben strukturieren und Orientierung geben. Sie geben die Möglichkeit, innezuhalten. Sie verbinden das eigene Leben mit der größeren Wirklichkeit, in der wir gehalten sind. Gläubige Menschen nennen diese Wirklichkeit Gott. Durch die, auch wiederholbare, Symbolhandlung eines Rituals wird diese Verbundenheit ausgedrückt und gestärkt. Mir verleiht das Kraft zur Gestaltung meines Lebens.

Besonders im Advent gibt es gute Möglichkeiten, Rituale zu entdecken und zu erproben. Normalerweise lese ich beim Frühstück die OÖN – im Advent, sorry, ist mein Ritual am Morgen ein anderes: Ich zünde die Kerzen des Adventkranzes an, genieße ohne "Medienfutter" mein Frühstück und nehme das langsame Herankommen des Tages wahr. Die Ruhe und Stille eröffnen einen Raum für mich und meine innerste Mitte und für das, was ist.

Das ist für mich Gebet. Andere Menschen sitzen lieber – auch im Kreis der Familie – am Abend beim Adventkranz zusammen, versuchen ein Lied miteinander zu singen, beten gemeinsam oder erzählen sich von den Tageserlebnissen. Ein schönes Ritual mit Kindern sind fixe Sprüche wie: Wir warten im Dunkeln, wir warten auf Licht. Gott segnet uns alle – fürchtet euch nicht!

Vielleicht holen Sie sich Weihwasser in einer Kirche, stellen es in einer schönen Schale auf und segnen damit Ihren Adventkranz und die Menschen, mit denen Sie leben. Sie könnten jeden Adventsonntag einen Stern basteln und damit die Wohnung auf Weihnachten vorbereiten – vielleicht finden die Sterne dann auch Platz auf dem Christbaum?

Kekse backen, räuchern, zu Bratäpfeln einladen oder sich (gegenseitig) die Füße massieren – all das können Rituale sein, die gut tun, wenn sie einen Raum eröffnen, der uns mit dem Leben an sich in Berührung bringt.

 

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19. April 2024