Auf und der Gams nach
Abenteuer Natur: Bernhard Lichtenberger mischte sich ins Menschenrudel, das sich im Nationalpark Kalkalpen zur "Faszination Gamsbrunft" ins Sengsengebirge führen ließ.
Gähnende Leere herrscht auf dem Parkplatz, von dem der Wanderweg 463 auf den 1963 Meter Hohen Nock führt. Um das Gähnen kommt auch das Quintett nicht herum, das an einem Samstag im November um 5.30 Uhr vor der Villa Sonnwend in Roßleithen auf Nationalpark-Ranger Rudolf Grall wartet. Noch ehe der Morgen graut, führt der Berufsjäger der Bundesforste steten Schrittes in den Mischwald des Sengsengebirges. Ein Stück weit begleitet das Plätschern des Pettenbaches. Die Bergschuhe schlurfen durch das raschelnde Laub. "Da! Schau!", sagt der Vordermann. Im Lichtkegel seiner Stirnlampe räkelt sich ein prächtiger Feuersalamander zwischen den trockenen Blättern.
Aber wir haben nicht seinetwegen auf einige Stunden Schlaf verzichtet. Die Begierde der Frühaufsteher gilt der Gamsbrunft, der Zeit des Verlangens unter den Hornträgern. "Wieso will man zuschauen, wenn’s das Wild treibt?", unterstellten Daheimgebliebene eine voyeuristische Neigung. Die Interessierten, vier Männer und eine Frau, verstehen sich nicht als Spanner. Wiewohl sie gespannt sind, welches Schauspiel ihnen die Natur gönnen wird.
Das müde Auge und das "Wo?"
Im fahlen Licht der Morgendämmerung bremst Rudolf Grall die schweigsam einhertrottende Karawane. Der 33-Jährige hat auf dem gegenüber liegenden Hang etwas entdeckt. "Ein junges Böckl", sagt er. "Der versteckt sich vor dem Starken." Das müde Auge mag seinem Scharfblick nicht folgen. "Wo?" Noch einmal geschaut. "Wo?" "Der schwarze Punkt unter der rotgefärbten Buche", sagt Grall. Treffer!
Das Böcklein trägt bereits das schwarze Winterfell. Für uns Schaulustige ist das nicht wirklich ein gutes Zeichen. Die für die Jahreszeit viel zu warmen Temperaturen setzen den Tieren zu, machen sie träge. Da mag keine Gams gamsig werden, denkt man.
Ober uns, vor dem hellen Fels leicht auszumachen, steht eine Geiß und säugt ihr Kitz. Sie sind nicht alleine. Wir zählen sieben Stück. Ein Jahrling wirft sich im Stile eines Ronaldo geckenhaft in Pose, obwohl er noch nicht geschlechtsreif ist. "Die haben uns schon gesehen, bevor wir sie gesehen haben", sagt der Ranger. Dass die Tiere nicht Reißaus nehmen liege daran, dass sie höchst neugierig und am vielbegangenen Weg 463 an Wanderer gewöhnt seien.
Berstende Äste durchbrechen die Stille. Schnaubende Laute dringen näher. Da! Der Platzbock hetzt in wilder Jagd einen Rivalen, der ihm zu nahegekommen ist, über Stock und Stein. "Damit hab’ ich heute nicht gerechnet. Das ist gewaltig", sagt Rudolf Grall. Wegen der milden Witterung erstaunt ihn das aktive Verhalten. Derweil pfeifen die beiden Böcke hinunter in den Budergraben – welch sinniger Name zur Paarungszeit.
Auf rund 1000 Meter Seehöhe finden wir ein feines Platzerl. Erneut werden die Ferngläser gezückt. Grall pflanzt ein Objektiv mit 30-facher Vergrößerung auf das Stativ und nimmt damit den kohlschwarzen Bock eines Rudels ins Visier. So kommt man ihm ganz nahe, ohne die Nase rümpfen zu müssen. "In der Brunft stinkt der Bock erbärmlich. Er benetzt sich mit Urin, das ist sein Parfüm. Und mit dem Sekret der Brunftfeigen, die hinter den Hörnern liegen, markiert er Sträucher", erklärt der Berufsjäger, der Nichteingeweihte schon einmal mit Fachjargon verblüfft. "Der hat nur einen Schlauch", sagt er. Schlauch? So nennt der Weidmann das hohle Horn. An den Ringen ließe sich das Alter ablesen. "Wenn das drei Jäger zählen, erhält man drei verschiedene Ergebnisse", so Grall mit einem verschmitzten Lächeln.
Der schießwütige Habsburger
Mittlerweile erreichen die ersten Sonnenstrahlen den über uns thronenden Merkenstein. Dort hatte dereinst Erzherzog Franz Ferdinand seinen 1000. Gamsbock geschossen. Der fanatische Jäger hatte über seine Leidenschaft akribisch Buch geführt. 274.899 Tiere hat er demnach zur Strecke gebracht. Der Jubiläumsbock vom Merkenstein sticht heraus, weil er doppelt unterstrichen wurde. Als bittere Ironie ging in die Geschichte ein, dass der habsburgische Thronfolger 1914 in Sarajewo selbst Opfer einer Kugel wurde.
Langsam entrückt das Rudel unseren Blicken. Es geht auf Distanz zu einem aufsteigenden Rudel in Funktionswäsche: Wanderer, die den Hohen Nock als Ziel haben. Einen Platzbock beim Werben oder Beschlagen der Geiß zu beobachten, blieb versagt. Man ist doch kein Voyeur.