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Wer verzeiht, vergibt sich doch nichts

Von Klaus Buttinger   03.November 2018

Der Vater hatte seine erwachsene Tochter schon lange nicht mehr gesehen. Ein lange zurückliegender Konflikt trennte sie. Der Mann ist schwer krank, liegt auf der Palliativstation und leidet doppelt – unter körperlichen Schmerzen und der seelischen Pein alter Kränkungen, der Sehnsucht nach Vergebung und Verzeihung.

„Wir kennen das aus der Umgangssprache“, sagt Oberarzt Johann Zoidl, Vorstand der Abteilung für Palliativmedizin am Ordensklinikum der Barmherzigen Schwestern in Linz. „Wir sagen, etwas tut mir in der Seele weh, bis ins Herz hinein weh.“ Es ist die Mischung, die schmerzt: Wut, Enttäuschung, Verbitterung, Rachegefühle, Ängste, Selbstvorwürfe ... „Wer auf Dauer jemandem etwas nachträgt, der trägt selbst schwer daran“, sagt Philosophin und Seelsorgerin Melanie Wolfers (siehe Interview rechts). Aus diesem „Gefängnis der Emotionen“ führe nur die Vergebung heraus, postuliert der US-Psychologe Robert Enright, der das „International Forgiveness Institute“ mitbegründet hat. „Vergebung ist der Schlüssel, mit dem Sie die Gefängnistür öffnen, so dass Sie aus dieser Zelle heraustreten können“, sagt Enright.

Der Schlüssel sperrt auch dann noch, wenn man nur noch liegen kann. Versöhnung auf dem Totenbett, das komme immer wieder vor, sagt Andrea Freudenthaler, Psychotherapeutin in der Palliativabteilung der Barmherzigen Schwestern. „Es ist sogar ziemlich häufig, dass es Brüche in der Familie gibt. Das können Konflikte sein, die noch aufgearbeitet werden sollen, oder Personen, zu denen es schon länger keinen Kontakt gegeben hat. Wir versuchen in den Gesprächen mit unseren Patientinnen und Patienten, das Bedürfnis nach Versöhnung herauszuhören.“

Schmerzhafte Vergebungsreise

Bei der Schließung alter Wunden hilft oft ein „Neutraler“ – wie Freudenthaler ihre Position in der psychotherapeutischen Betreuung sieht. Auch Psychologe Enright meint, man solle sich „nicht allein auf die wahrscheinlich schmerzhafte Vergebungsreise“ begeben, sondern einen aufmerksamen Gesprächspartner suchen, eine Freundin oder einen Freund, mit der/dem man Gedanken und Gefühle teilen könne. Was aber, wenn die Zeit drängt, weil sie zu Ende geht? „Patienten fühlen sich oft zu schwach, den ersten Schritt zu tun, bringen den Mut nicht auf oder fürchten, in alte Muster zurückzufallen“, sagt Freudenthaler. „Wir bieten dann manchmal an, den ersten Kontakt aufzunehmen.“

Die Tochter des Mannes erzählt, es habe in der Vergangenheit verschiedenes Unangenehmes zwischen ihnen gegeben. Das tue ihr zwar auch leid, doch sei es sehr schwer, den ersten Schritt zu machen.

Vergebung, so definiert das Psychologie-Lehrbuch, sei der Verzicht einer Person, die sich als Opfer empfindet, auf den Schuldvorwurf. Sie sei eine Strategie, um belastende Folgen einer äußeren oder inneren Verletzung zu bewältigen. Und sie ist bedingungslos und nicht notwendig. Warum dann die Sehnsucht danach? Was treibt den Menschen zur Vergebung?

Palliativmediziner Zoidl: „Eine große Rolle an dem Punkt, wo das Leben zu Ende geht, spielt die Frage: War mein Leben sinnvoll? Ist es sinnvoll, was ich hinterlasse? Und wenn da ein Störfaktor, ein Konflikt besteht, ist es schwierig, ihn mit einem Sinn zu belegen. Wir wollen nicht abtreten und sagen: ,Es ist ohnehin alles wurscht.’ Wir wollen eine positive Spur hinterlassen auf dieser Welt, insbesondere auf der Ebene der Kinder und Angehörigen.“ Wenn sich da etwas spieße, könne es durchaus noch sinnstiftend sein, „wenn hier Verzeihung, Vergebung und Schuldauflösung an Wert gewinnen“. Psychotherapeutin Freudenthaler fügt noch einen Aspekt an: „Solange der Mensch gesund ist, ist er sehr nach außen orientiert. Wenn man krank ist, ist man viel mehr mit sich alleine und spürt viel mehr die Verbundenheit mit seinen Nächsten.“

In menschlichen Beziehungen ist es unvermeidlich, dass eine Person verletzt oder enttäuscht wird. Gleichzeitig ist der Mensch ein Clanwesen, der ohne Beziehungen verkümmert. Dieses Risiko nennt sich Leben. Die gute Nachricht lautet: Ein paar Lebensregeln erleichtern das Überleben. Psychologische Forschungen besagen, dass die Beziehungen innerhalb von Familien dann besser sind, wenn es möglich ist, schwere Verstöße zu verzeihen. Gibt es eine Art Tradition des Verzeihens in Familien und Beziehungen, so weist die Forschung darauf hin, dass deren Mitglieder über ein effektiveres Konfliktlösungsverhalten verfügen und damit über bessere Chancen, dass Beziehungen und Partnerschaften glücklicher verlaufen. Kurz: weniger Depressionen, weniger Angst und Stress, dafür mehr Lebenszufriedenheit. Noch kürzer: Wer verzeihen kann, weist eine bessere emotionale und körperliche Verfassung auf. Das geht so weit, dass im Forschungslabor nach Vergebungsinterventionen eine bessere Durchblutung des Herzmuskels gemessen werden konnte.

Segen oder Verdammnis?

Am anderen Ende können überkommene religiöse Vorstellungen stehen. „Vor dem Hintergrund unserer christlichen Kultur, in der wir gelernt haben, zu verzeihen und um Verzeihung zu bitten, macht es extrem Angst, wenn man glaubt, einen Fehler gemacht zu haben – angesichts des Jüngsten Gerichts und solcher Dinge“, gibt Zoidl zu bedenken. Fragen würden auftauchen, ob man denn gottgefällig genug gelebt habe, ob man noch vergeben oder sich versöhnen müsse. „Habe ich den Segen, dass alles gut wird, oder gehe ich in die ewige Verdammnis ein, wie eine Patientin wortwörtlich zu mir gesagt hat“, berichtet der Palliativmediziner.

„Ich frage oft Menschen, was das Wichtigste in ihrem Leben war“, sagt Psychotherapeutin Freudenthaler. Interessant sei dann, dass auch Männer immer wieder das Wort „Liebe“ nennen. Aber auch die wortlose Form des Verzeihens und Vergebens kann tiefgehende Wirkung erzeugen.

Der Vater und seine Tochter haben Tränen in den Augen. Sie umarmen sich, halten sich fest. Da war das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein, trotz aller Schrammen und Schwächen.

 

 

Verzeihung ist der Weg zur Freiheit

Melanie Wolfers, in Deutschland aufgewachsene Philosophin, Theologin und Ordensschwester der Salvatorianerinnen, lebt in Wien und schreibt vielbeachtete Sachbücher. Eines trägt den Titel "Die Kraft des Vergebens".

OÖN: Wer zu vergeben lernt, wandelt Wunden in neue Lebensmöglichkeiten, schreiben Sie. Wie lernt man vergeben?

Melanie Wolfers: Ein erster Schritt ist, den Preis zu entdecken, den man bezahlen muss, wenn man auf Dauer unversöhnt bleibt. Nicht zu verzeihen, heißt, jemandem etwas nachzutragen. Wer auf Dauer jemandem etwas nachträgt, der trägt vor allem selbst schwer daran. Vergeben kommt nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daher, sondern da steckt eine neue Lebendigkeit, eine neue Freiheit drin.

Verzeihung ist der Weg zur Freiheit
Melanie Wolfers

Wie sähe ein erster konkreter Schritt zur Vergebung aus?

Den eigenen Gedanken und Gefühlen eine Audienz zu gewähren. Das heißt, in sich hineinzuspüren, was da in mir ist, an Gedanken, an Rachegefühlen, an Hass, vielleicht an Ängsten in Verbindung mit der Geschichte, die mich verletzt hat. Wenn ich auf Dauer die Sache unter den Teppich kehre, stolpere ich darüber.

Kann man verzeihen, ohne Einsicht oder Buße des Täters?

Ja, man kann auch ohne Gespräch verzeihen; wobei es wichtig ist, zwischen verzeihen und versöhnen zu unterscheiden. Es kann ja sein, dass der andere nicht mehr lebt oder unfähig ist, sich seiner Schuld zu stellen. Auf diese Weise nimmt man dem Schuldiger die Macht, die er ansonsten immer noch über einen ausübt. Positiv formuliert: Vergebung ist eine innere Unabhängigkeitserklärung, die einen instand setzt, das Leben nach den eigenen Überzeugungen zu gestalten.

Gibt es eine Grenze des Verzeihens?

Die Geschichte zeigt, dass es Menschen gibt, die schier Unverzeihliches vergeben können. Man denke an einige überlebende Opfer des Holocausts. Aber das ist kein normativer Maßstab. Festzuhalten ist: Verzeihen ist eine Sache der inneren Freiheit, ich darf das von niemandem einfordern.

Der Seitensprung, der Betrug in einer Beziehung, ist die häufigste tiefe Kränkung in einer Beziehung. Wie können Sie als Ordensfrau das nachvollziehen?

Als Ordensfrau erlebe ich diese Art der Verletzung nicht. Ich glaube aber nicht, dass man Dinge nur dann nachvollziehen kann, wann man sie in ultimativer Form erlebt. Nahestehende Beziehungen, in denen man Verrat erlebt, die gibt es in jedem Leben, auch in dem einer Ordensfrau.

Melanie Wolfers‘ neues Buch: "Trau dich, es ist dein Leben – Die Kunst, mutig zu sein", bene!-Verlag, 224 Seiten, 17,50 Euro

 

Vergebung nach dem Tod?

Von Michael Rosenberger

Als Seelsorger habe ich das oft erlebt: Da stirbt ein Mensch, und die Angehörigen merken, dass die Chance vorbei ist, sich mit dem oder der Verstorbenen zu versöhnen. Alte Rechnungen sind offen geblieben, zwischen Vater oder Mutter und Kindern, zwischen Geschwistern, zwischen langjährigen Weggefährtinnen und Freunden. Es hat sich einfach keiner getraut, das leidige Thema noch einmal anzusprechen oder wenigstens eine versöhnliche Geste zu setzen. Und jetzt hat der verstorbene Mensch den Konflikt mit ins Grab genommen. Die tiefe Verletzung der Angehörigen bleibt offen.

Ist Vergebung jetzt völlig unmöglich? Ist nun alles zu spät? Vergeben bedeutet nicht vergessen. Es ist keine Auslöschung der Erinnerung an Geschehenes. Vergeben heißt vielmehr, den berechtigten Zorn über ein Fehlverhalten des Anderen aufzugeben und nicht mehr zu hegen, ihn völlig wegzugeben. Verzeihen heißt, freiwillig auf Forderungen zu verzichten, die man gegenüber dem Schuldigen stellen könnte. Man rechnet dem Täter die Schuld nicht mehr an, obwohl man sich an das Geschehene auch weiterhin klar und deutlich erinnert.

Vergebung nach dem Tod?
Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger lehrt Moraltheologie an der Katholischen Privatuni Linz.

Sofern die Hauptschuld bei dem verstorbenen Menschen liegt, ist die Angelegenheit noch vergleichsweise "einfach": Die Hinterbliebenen können dem oder der Verstorbenen vergeben, weil sie das Geheimnis dieser Person spüren und respektieren und weil sie mit ihr wenigstens jetzt gut sein wollen. Und vielleicht auch, weil sie daran glauben, dass dem Verstorbenen seine Schuld im Angesicht Gottes leidtun wird.

Schwieriger wird es, wenn Hinterbliebene spüren, dass sie gegenüber der verstorbenen Person selbst schuldig geworden sind. Denn diese kann auf eine Bitte um Vergebung nicht mehr antworten. Und dennoch können Hinterbliebene Schritte der Versöhnung gehen: ihre Schuld zum Beispiel in einem Brief bekennen und diesen an das Grab des Verstorbenen bringen. Zur Buße jenen Menschen, die der verstorbenen Person am nächsten standen, etwas besonders Gutes tun und so ihren ehrlichen Willen zu einem Neubeginn bekunden. Oder, wenn sie dazu nicht den Mut finden, wenigstens eine entsprechend hohe Spende für einen wohltätigen Zweck geben. Und schließlich: sich in der Beichte die Vergebung Gottes zusagen lassen.

Vielleicht kann das Zugehen auf die Menschen, die der verstorbenen Person am nächsten standen, diese dazu bewegen, im Namen des oder der Verstorbenen eine versöhnliche Geste zu setzen. Das wäre ein großes Geschenk, dessen Wert gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Aber auch wenn dieser Fall nicht eintritt, gibt es Hoffnung. Wir dürfen zuversichtlich sein, dass am Jüngsten Tag, beim Wiedersehen in der Ewigkeit, die Versöhnung gelingen wird. Wenn beide Kontrahenten sich vor dem Angesicht des barmherzigen Gottes begegnen, wird Er ihre Herzen erweichen und ihnen Kraft für den Schritt aufeinander zu geben. Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern der Gott des Lebens und der Liebe.

Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger lehrt Moraltheologie an der Katholischen Privatuni Linz.

 

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29. März 2024