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Vom Prager Frühling zum russischen Winter

Von Roman Sandgruber   18.August 2018

Die Achter-Jahre sind nicht nur für Österreich, sondern mehr noch auch für Tschechien zu zentralen Wendepunkten und Katastrophenjahren geworden: 1618 der sogenannte zweite Prager Fenstersturz, mit dem der für die böhmischen Länder so verhängnisvolle Dreißigjährige Krieg eingeleitet wurde, 1848 die für Böhmen besonders tragische Niederschlagung der Prager Revolution, 1918 das Kriegsende, das zwar die Gründung der Tschechoslowakischen Republik, aber keine Lösung der nationalen Frage brachte, 1938 das Münchner Abkommen, das die Zerschlagung und Besetzung der Republik einleitete, 1948 die kommunistische Machtübernahme und der oft als dritter Fenstersturz bezeichnete und bis heute unaufgeklärte Tod des regimekritischen Außenministers Jan Masaryk und schließlich 1968, als in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten jene Reformbewegung gewaltsam beendeten, die als Prager Frühling zum Begriff geworden ist.

Das Jahr der Gewalt

1968 war ein Jahr der Gewalt: Robert F. Kennedy und Martin Luther King wurden ermordet, der Vietnamkrieg erreichte seinen Höhepunkt und die heute von Alt- und Jung-68ern so nostalgisch erinnerte Studentenbewegung brachte den Terror der "Roten Armee Fraktion" und andere Gewalttaten hervor. Ob Alexander Dubceks Kommunismus oder Sozialismus "mit menschlichem Antlitz" und der von den Reformkommunisten propagierte "dritte Weg" zwischen Kommunismus und Kapitalismus tatsächlich gangbar gewesen wäre und wirkliche Freiheit und sozialen Wohlstand gebracht hätte, konnte nicht unter Beweis gestellt werden. Die brutale Gewalt der "Bruderstaaten" beendete ihn frühzeitig.

Vom Prager Frühling zum russischen Winter
Das Plakat richtete sich an die Invasoren: „Geht nach Hause, unsere Kinder haben Angst vor euch!“

Das am 27. Juni 1968 durch den Schriftsteller Ludvík Vaculík und weitere 67 tschechische Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler veröffentlichte "Manifest der 2000 Worte" brachte für die Sowjetunion das Fass zum Überlaufen. Die endgültige Entscheidung für ein gewaltsames Vorgehen fiel am 15. Juli 1968 bei einem Treffen der fünf "Bruderstaaten", UdSSR, Bulgarien, DDR, Polen und Ungarn, in Warschau. Die schärfsten Agitatoren waren die Parteichefs Bulgariens und der DDR, die um ihre eigene Machtbasis fürchten mussten. Strikt gegen ein Eingreifen waren Rumänien, Jugoslawien und Albanien. Als Zeichen der Solidarität mit den Prager Reformern stattete vom 9. bis 11. August der jugoslawische Staatspräsident Tito der CSSR einen Besuch ab, am 16. August kam Rumäniens Nicolae Ceausescu. Albanien ging seinen eigenen Weg, trat aus dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe aus und verfolgte einen an China angelehnten Steinzeitkommunismus. Der mit Moskau verfeindete Mao Tse-Tung konnte sich überhaupt zurücklehnen. Es gab für ihn in jedem Fall Vorteile: Wäre die Tschechoslowakei aus dem kommunistischen Verband ausgeschieden, hätte man Moskau dafür verantwortlich machen können. Und bei einem gewaltsamen Eingreifen konnte man erst recht dem "imperialistischen" Moskau dafür die Schuld zuweisen.

Am 17. August beschloss das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU einstimmig die militärische Intervention, die in der Nacht vom 20. auf den 21. August von Truppen Bulgariens, Ungarns, Polens und der Sowjetunion unter dem Decknamen "Donau" begonnen wurde. Auf die Mitwirkung der DDR wurde verzichtet, um nicht böse Erinnerungen an 1938/39 wach werden zu lassen. 750.000 Mann und 6000 Panzer waren beteiligt, unter stiller Duldung der USA und mit machtlosem Wegschauen Frankreichs und Großbritanniens. Die Invasion, die auf keinen militärischen Widerstand traf, kostete 72 Menschen das Leben. 266 wurden schwer verletzt.

Den Einmarsch verschlafen

Österreichs Politiker hatten die Brisanz der Lage völlig falsch eingeschätzt und den Einmarsch buchstäblich verschlafen, meint Stefan Karner, Österreichs bester Kenner der Geschichte der kommunistischen Staaten. Als die Panzer in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 auf Prag und Preßburg zurollten, waren alle maßgeblichen Vertreter der österreichischen Staats- und Heeresspitze auf Urlaub, obwohl der Nachrichtendienst des Verteidigungsministeriums seit langem über Interventionspläne und sichtbare Hinweise informiert hatte. Bundeskanzler Klaus urlaubte in einem telefonlosen Haus im Tullnerfeld. Als ihm in aller Herrgottsfrühe ORF-Generalintendant Gerd Bacher, nur im Pyjama und mit einem in aller Eile übergestreiften Mantel bekleidet, die Nachricht überbringen wollte, begegnete er dem damaligen Sekretär Klestil, der den Kanzler bereits aus seiner telefonlosen Einöde geholt hatte.

Österreichs Staatsspitze verhielt sich sehr zurückhaltend. Nicht nur die Anweisung des damaligen Außenministers Kurt Waldheim, CSSR-Bürgern keine Visa auszustellen, sondern auch, dass Bundeskanzler Josef Klaus den Einmarsch nicht verurteilte und die heimischen Truppen 30 Kilometer Abstand von der Grenze halten ließ, erregte die öffentliche Meinung, die klar aufseiten der Reformer stand. War es die Angst, in die Auseinandersetzungen hinein zu geraten, war es die Sorge um den erst kurz zuvor mit der Sowjetunion abgeschlossenen Gasliefervertrag, war es die Angst vor Flüchtlingsmassen? Angesichts der zahnlosen Haltung der Großmächte wird man der österreichischen Regierung kaum Vorhalte machen können. Aus der Reihe fiel bloß der damalige österreichische Gesandte in Prag und spätere Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, der auf eigene Verantwortung die Ausfertigung von Visa für Tausende Bürger der CSSR veranlasste, was aber insofern ohne Risiko blieb, weil die neuen Machthaber froh waren, Kritiker aus dem Lande zu haben.

210.000 auf der Flucht

Von 21. August 1968 bis im Herbst 1969 kamen laut Schätzung des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung rund 210.000 Personen als Flüchtlinge, teils über die Grenze, teils von ihren Urlaubsdestinationen in Ungarn, Jugoslawien und am Schwarzen Meer nach Österreich. Zigtausende Menschen wurden in Zeltlagern untergebracht. In Wien, das mit 90 Prozent der Übernachtungen die Hauptlast der Erstversorgung zu tragen hatte, wurden Notunterkünfte im Überschwemmungsgebiet der Donau, auf Campingplätzen, in Heimen von Hilfsorganisationen, in Lagerhäusern und Turnsälen bereitgestellt. Angesichts der bedrängten Lage versuchte man, die Flüchtlinge so schnell wie möglich zur Auswanderung zu bewegen. Viele Staaten zeigten Solidarität und hatten auch Interesse an den tschechoslowakischen Auswanderern, die jung und gut ausgebildet waren. Zu den Hauptaufnahmeländern gehörten Kanada, Australien, Südafrika, die USA und die Schweiz. Manche wie Karel Krautgartner, Zdeněk Mlynář oder Pavel Kohout blieben auch in Österreich.

Prager Führung verhaftet

In der Tschechoslowakei begann unterdessen die sogenannte "Normalisierung". Die Prager Führung um Dubcek wurde verhaftet und nach Moskau gebracht. Dort wurde sie verpflichtet, die Reformen rückgängig zu machen und auf die sowjetische Linie einzuschwenken. Staatspräsident Antonin Svoboda, der zuvor als Held der Reformbewegung galt, fiel dort Dubcek in den Rücken: "Wenn er zurücktritt, wäre es für uns alle besser." Zuerst ließ man die Reformanhänger großzügig ausreisen, um sie zumindest nicht mehr im Land zu haben. Mitte Oktober 1969 wurde die Emigration gestoppt. Der Eiserne Vorhang fiel wieder herab. Dubcek musste abdanken. Die Medien wurden gleichgeschaltet. Jene, die sich nicht beugen wollten, verloren ihren Arbeitsplatz und wurden zu Fensterputzern, Heizern und Hilfsarbeitern degradiert. Viele verloren auch das Interesse an der Politik. Sie arrangierten sich mit dem System, gaben sich mit einem Wochenendhäuschen und einem Lada oder Škoda zufrieden und gingen in die innere Emigration.

23 Jahre blieben die sowjetischen Truppen im Land. Erst zwei Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, am 27. Juni 1991, verließ der letzte sowjetische Soldat das Land. Der Warschauer Pakt löste sich auf. 2006 räumte der russische Präsident Wladimir Putin für sein Land als Rechtsnachfolger der Sowjetunion zwar eine moralische Verantwortung ein, sagte aber: "Es gibt keine juristische Verantwortung und kann keine solche geben." Er hat noch genug andere Interventionen zu verteidigen.

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