„Das war ein wilder Sommer“
Irene Dyk-Ploss war unter den ersten Studentinnen und Studenten, als 1966 die Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (heute Johannes-Kepler-Uni) den Studienbetrieb startete. Zwei Jahre später war sie bereits Prima der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) – und mittendrin, als auch die Linzer Studenten immer lauter ihre Rechte in einer autoritären Studienhierarchie forderten. „Es war ein wilder Sommer“, erinnert sie sich im Gespräch mit Studentin Aylin Özdemir. „Wir haben einige ganz liebe Freunde verloren.“
Wie war es als junger Mensch im Jahr 1968? Wie war das gesellschaftspolitische Klima?
Es hat sich auf allen gesellschaftspolitischen Ebenen viel getan, angestoßen durch die internationale Studentenrevolte. Für uns in Linz waren vor allem die Vorgänge in der Tschechoslowakei der wichtigste Faktor. Es war ein wilder Sommer. Durch den Prager Frühling hatte der Eiserne Vorhang plötzlich große Löcher bekommen, Studenten konnten heraus und uns im Linzer KHG-Heim besuchen. Das Heim hatte gute Kontakte zum Ostblock. Als die Russen am 21. August den Prager Frühling gewaltsam beendeten, standen viele vor der schweren Entscheidung, zurückzugehen oder für immer dazubleiben. Da haben wir einige ganz liebe Freunde verloren.
Woran erinnern Sie sich besonders, wenn Sie an 1968 denken?
Da erinnere ich mich an folgende Anekdote: Das Gelände um den Uniteich wurde von vielen zum Spazieren genutzt, auch von vielen Müttern mit Kindern. Das störte einige Professoren, und sie versahen den Eingang zur Uni mit einem Drehkreuz. Wir Studenten haben dann mit Freude die Kinderwägen drübergehoben. Verschiedene studentische Gruppierungen haben zu nächtlicher Stunde die Drehkreuze immer wieder ausgerissen, in den Teich geworfen, einmal sogar auf die Ladefläche eines Lkw gelegt. 1969 haben wir die Drehkreuze rosa gestrichen und mit Mascherln verziert. Im gleichen Jahr veranstalteten wir im KHG-Heim ein Sleep-in, um gegen die sehr reglementierten Richtlinien in den Heimen zu protestieren. Wir haben mit unseren Matratzen die Wohnung des Heimleiters verbarrikatiert.
War 1968 eine reine Studentenbewegung?
Das war sie nicht, aber es hat relativ lange gedauert, bis sie andere gesellschaftliche Bereiche erreicht hat.
Welche Ziele hat die Protestbewegung erreicht?
Vor allem in Bezug auf Demokratisierung und studentische Mitbestimmung wurde viel erreicht. Jetzt kommt aber eine völlig andere Generation an die Unis.
Sind die heutigen Studenten zu brav?
Ja. Sie haben offenbar kein Bedürfnis, sich aufzulehnen. Vieles hätten wir uns nicht gefallen lassen, da hätten wir das Institut besetzt.
Woran liegt das?
Es liegt unter anderem wohl am ungeheuren Leistungsdruck in den Schulen. Die Schüler sind es gewohnt, zu parieren.
Warum waren die Studenten damals solche Revoluzzer?
Wir haben einfach international gesehen, dass man etwas bewirken kann. Wenn eine Gruppe geschlossen den Raum verlässt, was will der Vortragende dann machen?
War die Bewegung damals von Männern dominiert?
Das war zwangsläufig so. Der Frauenanteil lag an der Uni weit unter 20 Prozent. Aber auch allgemein waren die 1960er-Jahre keine frauenbewegten Jahre. Wir hatten mit der Revolution der gesamten Gesellschaft genug zu tun. Das Frauenthema kam erst Mitte der 1970er-Jahre.
Wie nahm die Gesellschaft damals den Feminismus wahr?
So wie heute: gar nicht. Das ist die Sache einiger weniger Frauen. Das kratzt die Mehrheit gar nicht.
Wie stehen Sie dazu?
Die Frauen sind zu brav. Es gibt zu wenige, die ihre Möglichkeiten ausloten und streitbar sind und sich auch unbeliebt machen wollen. Denn den Revolutionär, den die Gesellschaft liebt, gibt es nicht.
Was ist von den 1968ern geblieben? Geht es wieder in die konservative Richtung?
Sie sagen es. Ein wenig haben es die 68er-Frauen verabsäumt, ihre Gesinnung an ihre Töchter weiterzugeben. Sie sind bis zu einem gewissen Grad zu weich gefallen.
Wäre so eine Bewegung wie 1968 auch heute noch möglich?
Das hängt davon ab, wie sich die Drucksituation entwickelt. Im Moment leben wir diesbezüglich in ruhigen Zeiten. Sobald der Leidensdruck wächst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zur Revolution kommt.
Glauben Sie, dass sich die Jugend auf den Errungenschaften von 1968 ausruht?
Bis zu einem gewissen Grad ja. Aber es gibt auch Bereiche, in denen die Jugend vorausdenkt, etwa in der Einstellung zu Europa, in der Bildungsbereitschaft oder im Gesundheits-, Körper- und Fitnessbewusstsein.
Welchen persönlichen Gewinn haben Sie aus diesen Jahren gezogen?
Diese Jahre haben mich ungemein geprägt. Ohne diese Erfahrungen hätte ich den Mut zu meinen unterschiedlichen Berufen nicht gehabt. Ich habe gesehen, dass Frauen dieselben Dinge erreichen können wie Männer.
Irene Dyk-Ploss
- 1947 Irene Dyk-Ploss wird in Bad Goisern geboren.
- 1966 Als eine der ersten Hörerinnen und Hörer der neuen Linzer Hochschule studiert sie Soziologie. Das Studium schließt sie nach nur sieben Semestern ab. Danach arbeitet sie am Institut für Arbeitsmarktpolitik an der heutigen Kepler-Uni.
- 1974 Sie promoviert („Die Druckfahnen für die Dissertation las ich im Wochenbett“).
- 1979-1996 Dyk-Ploss ist für die ÖVP im Landtag. Sie unterrichtet an der Sozialakademie und leitet selbst als Sozialarbeiterin mehrere Projekte für benachteiligte Jugendliche.
- 1981 Sie habilitiert als erste Frau an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät und ist die insgesamt dritte Professorin an der Kepler-Uni.
- 1998-2009 Als Professorin lehrt sie am Institut für Gesellschaftspolitik.