Hoch soll sie leben

Von einer, die Geschichten schreibt und jetzt selbst eine gute Story geworden ist: Die Journalistin Marlies Czerny aus Steinbach an der Steyr hat alle 82 Viertausender der Alpen bestiegen. Geplant war das nicht. Geglückt ist es trotzdem.
Es ist der 1. Jänner 2017, 5 Uhr früh: Die Silvester-Raketen sind abgefackelt, Sekt- und Champagner-Flaschen leer, viele Menschen dämmern nicht ganz rauschfrei in den ersten Tag des neuen Jahres hinein. In der Hörnlihütte am Fuße des Matterhorns gibt die aufgeweckte Marlies ihrem ebenso putzmunteren Andi ein Busserl. Und umgekehrt.
Dann marschieren die beiden hinauf, durch das Japaner-Couloir, zur Moseleyplatte, grüßen im Vorbeigehen die Figur des heiligen Bernhard und stehen schließlich kurz vor Mittag auf dem 4478 Meter hohen Gipfel des Matterhorns, der in der Hochsaison unter einem Menschentraubenbefall leidet. Am Neujahrstag gehört das bekannteste Fotomodell der Schweiz Marlies und Andi exklusiv und allein. Und während unten im Tal das Neujahrskonzert gehört oder das Neujahrsskispringen geschaut wird, wünschen einander die beiden Gipfelstürmer aus Oberösterreich ein "Gutes neues" (und möglichst keinen unguten Rutsch beim kniffeligen Abstieg). So viel steht jetzt schon fest: 2017 ist für Marlies und Andi tatsächlich ein gutes neues Jahr geworden, ein sehr gutes sogar.
Das Album ist voll
Am 14. August stand Marlies Czerny nach einer fast endlosen Kraxelei mit Seil- und Lebenspartner Andi Lattner auf dem Gipfel des Pic Luigi Amedeo und setzte damit einen Schlusspunkt hinter einer etwas seltsamen Geschichte. Es war nämlich nie ihr Plan, die höchsten Gipfel der Alpen wie Briefmarken zu sammeln. Trotzdem hat sie an diesem 14. August ein volles Album zumachen können. Der Pic Luigi Amedeo war ihr 82. Viertausender. Mehr gibt es nicht in den Alpen. Vermutlich ist Czerny die erste Österreicherin, die sich als Bezwingerin aller Gipfel jenseits der 4000-Meter-Markierung als "Königin der Alpen" fühlen darf (nennen würde sie sich selbst sicher nicht so).
Hinter der Höchstleistung der 30-Jährigen stand nie ein Masterplan. Czernys alpinistische Aktivitäten hatten vor gar nicht so langer Zeit einen eher überschaubaren Radius. Vor acht Jahren wurde die höchste Erhebung vor der Haustür, der Schoberstein bei Molln, dann aber doch zu klein. Die Eroberung der Bergwelten hinter dem Nationalpark-Kalkalpen-Horizont erfolgte mit einer schwindelerregenden Dynamik.
In sechs Jahren von 0 auf 82
Vor sechs Jahren stand sie auf dem Dom, ihrem ersten Viertausender. Und wie Czerny jetzt steile (Klet-ter-)Steige hinaufturnt, so im Vorbeigehen den Traunsee-Marathon (75 Kilometer/4500 Höhenmeter) bewältigt und sich spielerisch mit dem Gleitschirm den Zugang zur dritten Dimension verschafft, kann Mann nur staunen.
Das berufliche Basislager hatte Czerny vor zehn Jahren – am Tag eins nach ihrer Maturareise – bei den OÖNachrichten aufgeschlagen, wo sie nach dem Trainee-Programm in der Sportredaktion andockte. Das ist auch so etwas wie eine Erstbegehung gewesen, denn der Sport hatte bei den OÖN vorher das Format einer Männer-WG. Als Jung-Journalistin entwickelte Czerny einen besonderen Stil. Ihre Geschichten waren getrieben von einer Neugierde und dem Staunen über Leistungen, die Ausnahme-Könner wie Ski-Star Marcel Hirscher oder Extremsportler Wolfgang Fasching ablieferten. Letzteren begleitete sie beim "Race Across America" und einem aberwitzigen Rad-Marathon von Wladiwostok nach St. Petersburg. Der alpinistische Grand-Slam von Gerlinde Kaltenbrunner war genauso ihr Thema wie das Abenteuerrennen von Paul Guschlbauer beim X-Alps von Salzburg nach Monaco.
Immer war Czerny als Chronistin, als "Schriftführerin", aber auch als Helferin dabei, nie dachte sie daran, selbst einmal die Hauptfigur einer wirklich guten Geschichte zu sein. Was sie spätestens jetzt aber geworden ist.
Alle 82 Viertausender der Alpen hat sie bestiegen. Ohne Plan, mehr oder weniger unabsichtlich. Wie ihre Reise weitergeht? Irgendwo hinter dem Horizont wird wohl bald einmal der Himalaja auftauchen. Gerlinde Kaltenbrunner hat Czerny bereits ihre Schuhe fürs Höhenbergsteigen überlassen. Ziemlich große Fußstapfen, aber sie wird schon hineinwachsen. Ungeplant, natürlich.

Das Grande Finale: „Glücklich hoch 82“
Marlies Czerny über die heikle Gratwanderung zu ihren letzten Viertausendern, die fast zur „Mission impossible“ wurde.
Zum Glück waren nicht alle der 82 Viertausender so anspruchsvoll wie meine letzten drei. Mein Nervenkostüm hätte wohl viele Flickstellen und ich graue Haare am Kopf. Der gesamte Brouillardgrat (Brouillard intégrale) im wildesten Eck vom Mont Blanc verbindet diese letzten drei Gipfel (Punta Baretti, Mont Brouillard, Pic Luigi Amedeo), und ich fühlte mich mit meinem liebsten Seilpartner Andi nicht nur einmal wie in einem Actionthriller. Der Film hieße „Mission impossible“.
Wir hatten uns am vergangenen Samstag angesichts von zu viel Neuschnee und sehr rutschigen Verhältnissen auf dieser Himmelsleiter, die vom Talboden des italienischen Val Veny bis zum höchsten Punkt der Alpen reicht, schon zur Umkehr entschlossen. Doch dann schickte uns der Himmel auf dieser normalerweise einsamen Tour zwei weitere Seilschaften, und wir beschlossen den Rückzug vom Rückzug. Neue Spuren, neue Hoffnung.
Zwei kalte Biwaknächte auf kleinen Schneeflecken in den steilen Felsen waren nötig, um diese Tour sicher zu meistern. Unsere „Hütte“ trugen wir im Rucksack, was die Sache erheblich erschwerte: Klettern mit 15 Kilogramm Gepäck ist nicht immer genussvoll. Wenn man in der Nacht bei Minusgraden aber nicht erfriert, ist das schon angenehm.
Das zweite Biwak mussten wir nach meinem 80. und 81. Viertausender ungewollt früh einlegen, weil uns die weiteren Kletterstellen zu gefährlich erschienen. Die Mittagssonne ließ den vereisten Kamin am Pic Luigi Amedeo zur Wasserfall- und Steinschlagzone werden. Eine Nacht, die wieder alles gefrieren ließ, war unser Schlüssel für diese Stelle, die wir mit unseren Eisgeräten heikel erklettern mussten. Während dieser „Zwangspause“ am Nachmittag im Col Emile Rey mussten wir leider zusehen, wie der Hubschrauber die nachfolgende Seilschaft vom Gipfel des Mont Brouillard rettete. Der Grund dürfte banal gewesen sein: eine verloren gegangene Sonnenbrille. Die Konsequenz: Schneeblindheit. Der Grat auf so entlegenen Routen ist ein schmaler: Das Missgeschick kann noch so klein sein, und man ist ein Fall für die Rettungskräfte.
Den Tag erhellten uns unfassbar schöne Sonnen- und Wolkenstimmungen und ein Jahrhundert-Fund: In einer verrosteten Dose fand Andi eine Botschaft von Giovanni Gugliermina, dem Erstbegeher vieler umliegender Gipfel. Datiert mit Bleistift auf das Jahr 1899.
Unser Happy End war noch nicht auf dem Pic Luigi Amedeo gekommen (meinem letzten Viertausender), es war weiterhin höchste Konzentration gefordert. Wir mussten auf diesem mittlerweile gruselig brüchigen Grat noch bis zum Mont Blanc weiter. Erst als die Schritte über den Normalweg hinunter wie von selbst liefen, kullerten erstmals Freudentränen über meine Wangen. Wir fühlten uns glücklich hoch 82.

Die Netzwerker
Nach fast zehn Jahren bei den OÖN, einem Praktikum als Journalistin in der Schweiz, einem Sabbatical, in dem sie sich unter anderen Fähigkeiten in Sachen Mental-Training erwarb, und der beruflichen Verselbstständigung macht Marlies Czerny inzwischen abseits der gut markierten und ausgetretenen beruflichen Karrierewege Tempo. Gemeinsam mit ihrem Partner Andreas Lattner betreibt sie die Internet-Plattform hochzwei.media, auf der man unter anderem sehenswerte Foto-Geschichten findet.
Im nächsten Vortrag erzählen die beiden am 12. September in Altmünster (Hotel Wildschütz) von ihrer Besteigung der Ama Dablam in Nepal.