Vranitzky: „Die Opferrolle ist unwahr“

Von Martin Dunst   07.Mai 2011

Altbundeskanzler Franz Vranitzky (74) von der SP war der erste österreichische Staatsmann, der vor zwanzig Jahren öffentlich erklärt hat, Österreich müsse seine Rolle in Bezug auf die NS-Vergangenheit überdenken. An seine Rede damals im Parlament erinnert sich Vranitzky im OÖN-Gespräch noch genau: „Die Jugoslawienkrise war auf dem Höhepunkt, im Nationalrat lief eine heftige Debatte, ob wir Slowenien im Alleingang anerkennen sollten oder nicht.“ Bei dieser Gelegenheit habe er, ohne sich zuvor mit den Kollegen aus der Bundesregierung abgesprochen zu haben, den Anlass genutzt, um Klartext zu sprechen. „Es ist an der Zeit, dass Österreich seine eigene Position überdenkt, weil diese auf historisch unwahren Tatsachen beruht.“ Das Land solle nicht ewig mit der Opfertheorie weiterleben, es sei auch nicht richtig, dass man nichts für die NS-Verbrechen könne. „Österreicher sind zuerst illegal und später legal der NSDAP beigetreten.“ Vranitzky wollte damals seine Aussage nicht als kollektive Schuldzuweisung verstanden wissen. Und wie waren die Reaktionen im Plenum? „Es gab Zustimmung und niemand hat einen unpassenden Zwischenruf abgegeben.“ In einer kleinformatigen Tageszeitung war allerdings von einer überflüssigen Übung des Bundeskanzlers zu lesen. Laut Vranitzky haben sich nach seiner Aussage die diplomatischen Beziehungen zu Israel normalisiert. 1993 sei er zu einem Staatsbesuch eingeladen worden.

„Kaum noch Tabus“

Der gebürtige Steyrer Autor Erich Hackl beschäftigt sich in seinen Romanen immer wieder mit Einzelschicksalen aus der NS-Zeit. Oft arbeitete er aus diesem Grund mit Zeitzeugen oder deren Hinterbliebenen zusammen. Bereitet es ihm Sorgen, dass in absehbarer Zeit keine Zeitzeugen mehr am Leben sein werden? „Tatsächlich macht mir das Sorgen.“ Weniger hinsichtlich neonazistischer Umtriebe, die es auch schon zu Lebzeiten von Verfolgten und Überlebenden des Naziterrors gegeben habe, als in Hinblick auf die Frivolität der Medienindustrie, für die es kaum noch moralisch motivierte Tabus gebe. „Ihre höchste de facto einzige Moral ist die Verkäuflichkeit“.

Leserhaltung bestärken

Hackls bekanntestes Werk „Abschied von Sidonie“ handelt von einem kleinen Roma-Mädchen, das in Sierning bei Pflegeeltern wohnt, unter tatkräftiger Mithilfe der Zivilgesellschaft deportiert wird und im KZ Auschwitz stirbt. Der Autor glaubt nicht, dass seine Geschichten die Leser verändern und stellt fest: „Das Schicksal von Sidonie wiederholt sich, in Abstufungen, tagtäglich.“ Er hätte die Geschichte Sidonies und viele andere vergleichbare nicht so sehr in der Hoffnung geschrieben, „dass sie sich – hier oder anderswo – nicht wiederholen – sondern weil sie mir für sich mitteilens- und bewahrenswert erscheinen“. Er gehe nicht davon aus, auch nur einen Leser, eine Leserin verändert zu haben. „Ich vermute aber, dass der eine oder die andere durch die Lektüre in seiner, ihrer Einstellung bestärkt worden ist.“