Nehmt endlich Druck raus!

01.September 2018

Mir seinerzeit selber passiert. GW-Prüfung in einer vierten Klasse Haupt in Wien. Ich frage: "Warum behaupten manche, dass man Europa Eurasien nennen müsste?" Die richtige Antwort – hundertmal vorgekaut – wäre sinngemäß gewesen: Weil Europa plattentektonisch nur der westliche Rand Asiens und so gesehen kein eigener Kontinent ist. Daniel aber sagt, immerhin zögerlich fragend: "Weil es in Europa so viele Oasen gibt?"

Hm. Eurasien – Oasen. Erster Gedanke: Niki, du musst an deinen Diphthongen arbeiten! Zweiter: Aber immerhin weiß er um die grundsätzliche Existenz von Oasen. Dritter: Welcher Teufel reitet uns eigentlich, dass wir von testosterongebeutelten Halbwüchsigen zu lernen verlangen, was sich 50 Kilometer südlich ihrer Lenden in der Lithosphäre abspielt?

Schule in Kasernen

Schule – dort kriegen Kinder die Antworten auf genau jene Fragen, die sie nie stellen würden. Das las ich in einem Essay des deutschen Philosophen Peter Sloterdijk. Wie wahr. Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit ihrem Fortpflanz (© Polly Adler) im Wald spazieren und er fragt Sie, ob die frei stehenden Wurzeln tatsächlich Goblins sein könnten (dafür müsste er freilich neben SMS und Social-Media-Posts auch den "Herrn der Ringe" gelesen haben). Sie aber sagen darauf: Gute Frage, heb’ sie dir auf, jetzt sprechen wir aber über die metallverarbeitende Industrie in den europäischen Ländern der ehemaligen Sowjetunion.

Vermutlich wäre "Oasien" nie passiert, wenn ich z. B. statt (damals) 30 Schülerinnen und Schülern normal viele gehabt hätte. Für normal hielte ich sieben oder acht. Eine Lehrerin – sieben, acht Schülerinnen, öfter am Tag einander abwechselnd, zwischendurch auch mal 70 oder auch 700 für den großen Vortrag in der Aula, das geht.

Und vermutlich wäre uns beiden Oasien auch nicht passiert, wenn sich Schule nicht landauf, landab in Kasernen für vermeintliche Zwerge abspielen würde. Sesselchen in Reih und Glied hinter Tischchen, darauf Tellerchen und Becherchen, in denen sich der so genannte "Stoff" befindet, für alle gleich portioniert, bis hinauf in die zentral vergurkten Maturaklassen, die sich im pädagogischen Relief von Volksschulklassen nur dadurch unterscheiden, dass die Sesselchen dort leer bleiben dürfen, ohne dass Eltern Geldstrafen und Kinderbeihilfeentzug fürs Schulschwänzen drohen. Vorn die Tafel wie vor 200 Jahren.

Lehrerinnen im Kampfmodus

Dazwischen die Lehrerinnen im Kampfmodus. Nicht alle, nicht immer im Kampfmodus, aber immer mehr immer öfter. Und alle mit dem Rücken zur Wand. Denn sie müssen Daniel, der in einer gut sortierten städtischen Hauptpardonneuenmittelschulklasse längst nicht mehr Daniel heißt, in Wien, in Wels, in Linz, in Graz, in Dornbirn, wo statt Daniel inzwischen nämlich Danijel sitzt, neben Milad und Ahmet und Gülten und Asma, sie müssen also Danijel, Ahmet und Co. all das beibringen, was diese noch nie wissen wollten, und das in einer Sprache, die jeder Zweite von ihnen außerhalb der Schule gar nicht spricht, und dann wird ihnen medial auch noch Versagen vorgeworfen, siehe PISA, siehe TIMSS, siehe PIRLS, siehe Bildungsstandards, siehe all die anderen Mess- und Wiegeinstrumentarien, von denen manche glauben, sie allein würden die Sau schon fett machen.

Ich bin voriges Jahr zum Schuldirektor aufge… naja umgestiegen und habe umständehalber einen gewissen Einblick hinter die Kulissen der bundesministeriellen Schulpolitik. Was ich dort mitunter sehe, wollen Sie gar nicht wissen, aber was ich nicht sehe, kann ich Ihnen sagen: dass nämlich die für das Gelingen guter Schule wirklich entscheidenden Dinge endlich angegangen würden (Kopftuchverbot, Strafen fürs Schulschwänzen und die Frage, ob man Muslimen den Nikolo zumuten darf, sind es nämlich nicht).

Rückentwicklung in Schulpolitik

Notwendig wäre Kleingruppen- statt Großklassenunterricht; die Schaffung modernen kinder- und (!) lehrerinnengerechten Schulraums; es müssten Schüler, wenn sie unsere Gesellschaft denn schon beurteilt haben will, dann endlich stärken-, nicht schwächenorientiert beurteilt werden können, und zwar so individuell wie möglich, nicht so zentral wie möglich; es müssten Schüler in ihrer Verschiedenheit geschätzt und bewusst zusammengeführt werden, in all ihrer ethnischen, kulturellen und kognitiven Vielfalt, die Kinder mit Förderbedarf auf Grund psychischer oder physischer Beeinträchtigungen wohlwollend mitein- und nicht ausschließt. Sie zu trennen, mit zehn Jahren auf verschiedene Gleise zu stellen, die gesellschaftlich nie wieder zusammenführen, ist ungerecht und gesellschaftspolitisch ein Eigentor.

Aber in der Schulpolitik, wie aktuell auch sonst in der Politik, überall der Backlash, überall die Rückabwicklung: Ziffernnoten und Sitzenbleiben; Trennung und Segregation; Strafen und Druck als vermeintliche Motivationsträger. Als würde nachhaltige Leistung nicht primär auf Freude aufbauen. Wie sehr wünschte ich mir eine Regierung, die versuchte, den Druck endlich wieder abzubauen, an dem alle Beteiligten leiden: Schüler, Eltern, Lehrerinnen. Damit Schulen wieder Oasen werden können, wo dann, wenn nicht in Europa.