Leidensg’schichten und Heimatsachen: Warum Strache die Million knackte

Von Christoph Kotanko   19.August 2015

Franziska, die muntere Pensionistin aus dem Salzkammergut; Hermann, der einsame Laborleiter aus dem Salzburger Land; Christa, die liebesbedürftige Wiener Kabarettistin: Bei ihrer Partnersuche waren Montagabend bis zu 1,16 Millionen Zuseher dabei. Sie verschafften den ORF-"Liebesg’schichten und Heiratssachen" einen Reichweitenrekord.

Gleich danach ging es beim "Sommergespräch" mit FP-Chef Heinz-Christian Strache um Leidensg’schichten und Heimatsachen. Das wollten bis zu 1,04 Millionen sehen, Marktanteil: 36 Prozent. Damit übertraf Strache den Allzeit-Rekord, den bis dahin Frank Stronach gehalten hatte.

FP-Generalsekretär Herbert Kickl strahlte: "Von Politikverdrossenheit ist keine Spur, wenn man wie Strache die Themen anspricht, die die Menschen bewegen."

Nun hat Kickl eine Aufmunterung bitter nötig, wird er doch mit einer Spesenaffäre in Verbindung gebracht. Faktum ist aber, dass zu nachtschlafender Zeit eine Million ORF-Kunden erleben wollte, wie Strache seine bekannten Nummern abzog: harsche Worte gegen illegale Einwanderer, Mitgefühl mit den "kleinen Leuten", die unter der Zuwanderung und der Wirtschaftsflaute litten, als Höhepunkt das Aviso eines Volksbegehrens "Österreich zuerst, Teil 2" – vor 22 Jahren hatte Jörg Haider mit dieser hetzerischen Veranstaltung begonnen. Seine Gegner reagierten mit dem Lichtermeer.

Fast alles bei Straches Auftritt war vorhersehbar, von Fans wie Feinden tausend Mal gehört, nur rhetorisch besser dargeboten.

Wieso schaut da eine Million zu?

Das hätte Kreisky getan

Strache ist die erste Anlaufstelle für Mühselige und Beladene. Der Hauptgrund für seine Stärke ist die Schwäche seiner Gegner.

Noch nie in den letzten 30 Jahren war das Personal so schlecht, die Last der Probleme so groß.

Beispiel Werner Faymann: Der Regierungschef ist mitten in der Flüchtlingskrise abgetaucht.

Bruno Kreisky hätte öffentlichkeitswirksam die Bürgermeister österreichischer Gemeinden durchtelefoniert, um ihnen die Asyl-Quartiere abzuringen.

Auch Reinhold Mitterlehner ist für viele Wähler kein Hoffnungsträger (mehr). Sie sehen den VP- Vormann als Verwalter des Verfalls. Vom "System", das er repräsentiert, erwarten sie nichts mehr.

Als Teil dieses Systems werden auch die meisten Medien, voran der ORF, gesehen. Strache schafft es oft, Interviewer als Büttel der FP-Hasser darzustellen. Moderator Hans Bürger hatte dieser Taktik wenig entgegenzusetzen.

In der Bevölkerung ist Angst das Leitgefühl. Die Krise verunsichert die Menschen bis tief hinein in die Wohlstandszonen. Gleichzeitig zieht sich der Staat vermehrt aus öffentlichen Aufgaben zurück.

Weil man der etablierten Politik nicht zutraut, die großen Probleme zu lösen, schlägt die Stunde der Populisten. Auch sie haben keine tragfähigen Lösungen – aber man kann dort wenigstens Dampf ablassen. Und es gibt im Publikum die verzweifelte Hoffnung, dass Straches Rezepte von gestern morgen heilsam sein könnten.

Wann, wenn nicht jetzt?

Doch der Blaue verbreitet viel Unfug. Weg vom Euro? Es gibt kein Zurück zum Schilling. Wieder Grenzkontrollen in Schärding oder in Nickelsdorf? No way. Der Klimawandel, bloß ein Naturereignis? Auch das ist längst widerlegt.

Diese Liste ließe sich fortsetzen. Doch Straches Gegner sollten sich nicht täuschen: Nur auf der Sachebene ist ihm nicht beizukommen.

Politik ist auch Vertrauenssache. Die Regierenden müssten das verlorene Vertrauen schleunigst zurückholen. Mit den Worten von John F. Kennedy: "Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?"

 

Polit-Talk: Bestwerte

Die Sommergespräche des ORF finden seit 1981 traditionell Ende August oder Anfang September statt. Eingeladen werden die Obleute der Parlamentsparteien. Unter den zehn meistgesehenen Sendungen seit Bestehen sind sieben mit FPÖ-Politikern. Seit Bestehen der Interviewreihe hatte Heinz-Christian Strache 2015 das größte Publikum: Im Schnitt 992.000, auf dem Höhepunkt 1,037 Millionen. An zweiter Stelle liegt Frank Stronach (827.000), an dritter das Gespräch mit Jörg Haider 1994 (807.000 Zuschauer). Heuer hatte Eva Glawischnig 635.000, Matthias Strolz 563.000 Zuseher.