75 Jahre Anschluss: „Decke drüber und Opfer draufschreiben“

Von Martin Dunst   09.März 2013

Lesen Sie zum Thema auch die Originalberichte von 1937 aus der Tages-Post, dem Vorläufer der OÖNachrichten

Warum war für den gebürtigen Braunauer Adolf Hitler Österreich so interessant?
Gerhard Botz: Im Vordergrund standen nicht wirtschaftliche Überlegungen oder dergleichen. Das auch, aber es ging vor allem um die Vorstellung, Deutsche in Österreich gehörten in ein Großdeutsches Reich. Die Vorstellung, dass alle Deutschen zusammengehören, war Hitlers Programm und dominierte seine Überlegungen. Der Anschluss war zu dieser Zeit in Österreich eine weit verbreitete Idee.

„Alle Deutschen heim ins Reich“, lautete eine gängige Parole. Die Menschen aus dem so genannten Altreich sollten Teil der „Volksgemeinschaft“ werden. Warum sahen viele Menschen in dieser Gemeinschaft ihr Heil?
Die „Volksgemeinschaft“ verheißt eine Art neue Welt, die weder kapitalistisch noch kommunistisch ist und auf nationalistischen, ideologischen Pfeilern fußt. Das Fundament dieser Welt ist eine Gesellschaft, in der im Dienste des „Volkes“ alle Deutschsprechenden zusammenwirken. Im Alltag heißt das, agieren und sich einsetzen bis zum Letzten. Aber „Volksgemeinschaft“ bedeutet auch Anspruch auf Belohnung für alle „guten“ Deutschen. Belohnung in Form von Teilnahme am Wirtschaftsaufschwung, der schon 1936 in Deutschland an Fahrt aufgenommen hatte. Gegner wurden grausam verfolgt.

Es geht nicht nur um materielle Zuckerl – die „Volksgemeinschaft“ vermittelt den Menschen doch auch: „Jetzt samma wieder wer“…
... Das stimmt. „Wir sind Papst“, oder „Wir sind Karl Schranz“… Das gibt es auch heute. Die Nationalsozialisten spielten ganz bewusst damals die identitätsstiftende Karte der Idee des Deutschen Reiches als eine Großmacht, die sich nicht länger verstecken muss. Das „Reich“, das die Schmach der Friedensverträge von Versailles und St. Germain rückgängig machen kann. Kurz nach dem Anschluss werden österreichische Kinder und Arbeiter nach Deutschland entsendet, um den Besuchern an Ort und Stelle zu zeigen, wie diese „Volksgemeinschaft“ funktioniert, wie schön sie ist.

Stichwort Arbeit. Die Hoffnung auf einen Job erfüllte sich für viele Menschen. Die Vorbereitung auf den Krieg startete den Wirtschaftsmotor. Wie holten die Nazis die Arbeiter, die überwiegend überzeugte Sozialdemokraten waren, ins Boot?
Die Arbeit wurde glorifiziert. Das neue Regime betonte immerfort den so genannten Sozialismus im Nationalsozialismus. Das ist eine Art neues Zusammenleben, zum Beispiel auch in der Betriebsgemeinschaft. Unter einer straffen Betriebsführung, Stichwort Führerprinzip, sollte die Gefolgschaft genau das tun, was der Chef anschaffte, aber die Arbeiter sollten nicht abgewertet werden. Der Kult der Arbeiter wird aufgewertet. Betriebsausflüge sind zum Beispiel eine Erfindung der Nazis.

Das katholisch-konservative Bürgertum steht nicht unbedingt hinter Hitler, und doch laufen ursprüngliche Skeptiker aus dem konservativen Lager zu den Braunhemden über. Wie gelang den Nazis der Brückenschlag?
Die Rutsche war der Reichsgedanke. Die Vorstellung von einem großen universalen, nicht unbedingt nationalsozialistischen „Reich“ hatten viele aus dem katholisch-bürgerlich-konservativen Lager. Das geht noch auf das „Heilige Römische Reich“ zurück. Diese Reichsvorstellungen greift die Nazipropaganda auf und hat Erfolg. Über diese Gemeinsamkeit finden viele Priester und katholische Laien zum Nationalsozialismus.

Die Nazis spielten also geschickt auf der Propagandaorgel, bedienten Sehnsüchte, suggerierten Hoffnung. Lassen sich so 200.000 oder gar 300.000 Menschen am 15. März auf dem Wiener Heldenplatz zu Ehren des neuen Führers erklären?
Zum Teil – ja. Die Strukturen der Nationalsozialisten funktionierten zudem auch in der Illegalität noch während des so genannten „Ständestaates“. Für die Heldenplatzkundgebung wird alles mobilisiert, was geht. Viele gehen aus Neugierde hin und werden einfach mitgerissen von einer perfekt geschmierten Propaganda-Maschine. Am 15. März war vieles noch spontan, aber die kommende Volksabstimmung am 10. April wurde der Höhepunkt aller bisherigen Aktionen von Propagandaminister Joseph Goebbels. Er war Zeremonienmeister und Showmaster in einer Person, setzte auch auf Neonlicht und Lautsprecher und achtete auf alle Details seiner Inszenierung.

Während die einen frenetisch ihrem sehnsüchtig erwarteten starken Mann zujubelten, bekamen die erklärten Gegner der Nationalsozialisten keine Schonfrist.
Das stimmt. Für die Nazis sind die Juden unabdingbar „die Feinde“. Juden stehen außerhalb der „Volksgemeinschaft“, ihnen geht es vom 12. März 1938 an schlecht. Ihre Wohnungen werden geplündert, ihre Autos beschlagnahmt, ihre Betriebe gehen an Nazis oder deren Sympathisanten.

Es kommt spontan bereits am 12 und 13. März zu so genannten „Reibepartien“. Unter dem Gejohle der „einfachen Volksgenossen“ müssen Juden auf Knien Parolen des „Ständestaates“ von der Straße entfernen. Welches Ziel wurde mit der öffentlichen Demütigung verfolgt?
Das ist ein vielschichtiges Phänomen. Zum einen sollte der Stolz der Juden gebrochen, ihnen Angst gemacht werden. Die Menschen, die da gedemütigt worden sind, waren noch jahrzehntelang traumatisiert. Dann waren diese Aktionen für das Volk nicht ganz neu. Auch im autoritäten Dollfuß-Schuschnigg-Regime kam es zu Schmieraktionen von Gegnern. Danach wurden entweder mehr oder weniger bekannte Kommunisten oder Nationalsozialisten zusammengefasst in so genannte Putzscharen und mussten regimefeindliche Parolen an Wänden oder von Straßen entfernen. Es kommt 1938 noch ein Faktor dazu: Es ist auch darum gegangen, das Land, die „Volksgemeinschaft“ zu reinigen. Symbolisch betrachtet kommt da in absurder Form eine Art christlicher Bußritus zur Anwendung. Wenn Hitler kommt, die Fahnen flattern, dann dürfen keine Reste mehr vom „Ständestaat“ übrig sein.

Wenn man die Bilder von zehntausenden Menschen auf dem Heldenplatz sieht, dann ist es schwer, nachzuvollziehen, wie es sich Österreich vierzig Jahre lang in der Opferrolle bequem machen konnte.
Die Opferrolle ist ein Skandal, aber man muss sie auch verstehen. Nach 1945 hatten fast alle ein schlechtes Gewissen. Viele kommen aus diesem Dilemma, indem sie sagen, wir wurden von den Deutschen besetzt, dann haben wir den Krieg verloren, gingen in Gefangenschaft, wurden entnazifiziert – viele Österreicher hatten das Gefühl, gebüßt zu haben. Was sie den Juden angetan hatten, dass sie Krieg für Hitler führten, die Slawen als „Untermenschen“ behandelt haben, war zwar nicht schön, meinte man, aber immerhin allgemein gültiges Gedankengut. Also Decke drüber und Opfer draufschreiben. Nach der Waldheim-Affäre war die Opferrolle nicht länger aufrechtzuerhalten.

George Gedye schrieb über die Märztage in Wien: „Als die Bastionen fielen“

Der britische Zeitungskorrespondent George Eric Rowe Gedye hat die Märztage des Jahres 1938 in Wien miterlebt, als rund 250.000 Wienerinnen und Wiener dem „Führer“ Adolf Hitler auf dem Heldenplatz zujubelten. Seine – viel zitierte – Reportage „Als die Bastionen fielen“ liefert bis heute ein anschauliches Bild der Ereignisse. Über die turbulenten Abendstunden des 11. März 1938 nach der Abschiedsrede des österreichische Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg schrieb Gedye: „Als ich auf dem Weg zu meinem Büro den Graben überquerte, wälzte sich auch hier schon die braune Flut heran. Es war ein unbeschreiblicher Hexensabbat – Sturmtruppleute, von denen viele kaum der Schulbank entwachsen waren, marschierten mit umgeschnallten Patronengürteln und Karabinern, als einziges Zeichen ihrer Autorität die Hakenkreuzbinde auf dem Ärmel, neben den Überläufern aus den Reihen der Polizei; Männer und Frauen brüllten und schrien hysterisch den Namen des Führers, umarmten die Wachleute und zogen sie mit sich in den wirbelnden Menschenstrom.“

Gedye schildert in seiner Reportage auch eine der berüchtigten „Reibpartien“, bei denen Juden in Wien von der SA gezwungen wurden, mit Eimer und Bürste die Parolen der Regierung Schuschnigg zur geplanten Volksabstimmung von den Gehsteigen zu waschen. „SA-Leute schleppten einen bejahrten jüdischen Arbeiter und seine Frau durch die beifallklatschende Menge. Tränen rollten der alten Frau über die Wange. (...) ‘Arbeit für die Juden, endlich Arbeit für die Juden’ heulte die Menge.“
 

65.000 Jüdinnen und Juden aus Österreich fielen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum Opfer.
11.000 österreichische Roma und Sinti verfolgte das NS-Regime. Zwei Drittel von ihnen wurden Opfer des „Zigeuner“-Holocaust.
50.000 bis 76.000 politische Gegner wurden in den ersten sechs Wochen nach dem Anschluss Österreichs inhaftiert oder kamen ins KZ.
 

„Tages-Post“: „Der Glaube hat gesiegt“

Die „Linzer Tages-Post“, der Vorläufer der OÖNachrichten, bietet die Möglichkeit für einen Anschauungsunterricht in Sachen, wie Propaganda über die Medien ab März 1938 funktionierte. In der Ausgabe vom 12. März 1938, übrigens ein Samstag, ist neben einem Bild von Adolf Hitler zu lesen, dass „der Glaube gesiegt“ habe. Österreich sei frei geworden, heißt es auch und dass Deutschösterreich die geschichtliche Stunde geschlagen habe. Am 14. März war in der „Tages-Post“ von einem Wiedersehen Hitlers mit der Heimat die Rede und davon, dass der Führer auch nach Wien kommt. Am 15. März schließlich war von der „großen geschichtlichen Wende“ die Rede und davon, dass Linz die Patenstadt des Führers wird. Unter dem Titel „Festliche Revolution“ stand: „Deutsche aus allen Gauen haben zusammengewirkt, den alten Traum des einigen Großdeutschland zu verwirklichen.“

Viele Dokumente

Mit dem Anschluss hörte im März 1938 Österreich zu existieren auf. Die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten begann, führte zum Zweiten Weltkrieg und vernichtete an die sechs Millionen Juden. In Erinnerung der Geschehnisse vor 75 Jahren finden Sie neben Geschichten, Reportagen und Interviews Ausgaben der „Linzer Tages-Post“.