Kurden stimmen heute über Unabhängigkeit ab
ERBIL. Seit Jahrzehnten träumen die Kurden im Norden des Irak von ihrer Selbstständigkeit.
Die Menge wogt und feiert über Stunden. Zehntausende Kurden sind ins Fußballstadion der nordirakischen Stadt Erbil geströmt, kein Platz ist mehr frei. Die Menschen singen, tanzen, schwenken kurdische Fahnen – Rot-Weiß-Grün, in der Mitte eine Sonne. "Bale, bale"-Rufe hallen durch das Stadion: "Ja, ja" zur kurdischen Unabhängigkeit. "Der Irak ist erledigt", brüllt ein Mann. "Er wird nicht mehr benötigt!"
Es ist am Freitagnachmittag die letzte Kundgebung, bevor die nordirakischen Kurden heute in einem Referendum über ihre Unabhängigkeit abstimmen, um sich einen alten Traum zu erfüllen. In ihren Autonomiegebieten genießen sie zwar große Selbstständigkeit, nun aber wollen sie mehr. Die Kurden könnten zwischen Unterordnung und Freiheit wählen, ruft ihr Präsident Massoud Barzani der Masse zu: "Wir können nicht länger mit Bagdad leben."
Der Widerstand ist groß
Doch der Widerstand gegen die Volksabstimmung der Kurden ist groß. Fast täglich wetterte der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi, das Referendum sei verfassungswidrig. Ihn treibt die Angst um, ausgerechnet in seiner Amtszeit könnte der Irak auseinanderbrechen. Vor allem aber die großen Nachbarn Türkei und Iran üben massiven Druck auf die Kurden aus, weil sie befürchten, die Absetzbewegungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten könnten Nahrung erhalten. Um Barzani ein Warnsignal zu geben, begannen türkische Truppen an der Grenze zum Irak mit einem Militärmanöver. Präsident Recep Tayyip Erdogan droht mit Sanktionen, die "keine gewöhnlichen" sein würden. Selbst die USA, eigentlich ein enger Verbündeter der Kurden, stellen sich gegen das Referendum. Das Weiße Haus kritisierte die Pläne als "provokant und destabilisierend".
Washington argumentiert, erst müsse die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Irak besiegt sein, dann könne über eine kurdische Unabhängigkeit gesprochen werden. Doch dieses Argument will der kurdische Analyst Saro Qadir nicht gelten lassen. "Der Kampf gegen den Terror wird noch Jahre dauern", sagt der Berater von Präsident Barzani. Überhaupt hält er den irakischen Staat, der von der Mehrheit der Schiiten dominiert wird, für gescheitert. Anders als in der Verfassung vorgeschrieben, seien nicht alle Gruppen – die arabischen Schiiten und Sunniten genauso wie die Kurden – gleichermaßen beteiligt worden. "Deswegen ist es unser Recht, den besten Zeitpunkt für unsere Interessen zu bestimmen."