Die Zweifel an der Islamisten-Theorie im Mordfall Nemzow wachsen
MOSKAU. Tschetschenen-Präsidenten Ramsan Kadyrow macht sich für den Hauptverdächtigten stark.
Boris Nemzow starb, weil er den Islam beleidigt hat. Das schreibt die russische Nachrichtenagentur "Rosbalt" unter Berufung auf eine Quelle in den Rechtsschutzorganen. Der tatverdächtige Tschetschene Saur Dadajew habe erklärt, ihm sei im Jänner 2015 bewusst geworden, dass sich Nemzow wiederholt negativ über russische Muslime und den Islam geäußert habe. "Als stark gläubiger Mensch konnte Saur das nicht dulden." Der tschetschenische Republikchef Ramsan Kadyrow stützte die Version eines "islamischen" Mordmotivs auf Instagram mit warmen Worten für Dadajew: "Alle, die Saur kennen, bestätigen, dass er ein tief gläubiger Mensch ist und dass er, wie alle Muslime, von der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen bei Charlie Hebdo und den Kommentaren, die das befürworteten, erschüttert war." Kadyrow bezeichnete den Angeklagten als "wahren Patrioten Russlands".
Warum gerade Nemzow?
"Wir haben gemordet, wir morden, wir werden weiter morden", fasst der Moskauer Blogger Anton Nosik sarkastisch Kadyrows Aussage zusammen. Gestern wurden in Tschetschenien wieder zwei Verdächtige festgenommen, angeblich unterhielten beide regen Kontakt zu Dadajew. Einer soll der Cousin eines hohen tschetschenischen Sicherheitsbeamten sein.
Nemzow, der Ende Februar nahe des Kremls getötet wurde, hatte im Jänner einen Kommentar zu dem Terrorakt gegen die Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo gebloggt und dabei dem Islam "mittelalterliche Inquisition" vorgeworfen.
Doch auch in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny herrschen Zweifel an der islamistisch-kaukasischen Mordversion. "Nemzow war einer der Ersten, der Unterschriften gegen den Krieg in Tschetschenien gesammelt hat, um unser Volk zu schützen", bloggt die Menschenrechtlerin Cheda Saratowa. "Nemzows Äußerung über den Islam hat kaum jemand wahrgenommen", sagt der Moskauer Polizeiexperte Ochran Dschemal.
Viel mehr böses Blut erregte der Aufruf des in der Schweiz lebenden Oppositionellen Michail Chodorkowski, die Zeitungen sollten jetzt erst recht Mohammed-Karikaturen abdrucken. Kadyrow erklärte Chodorkowski zu seinem "persönlichen Feind". Außerdem attackierte er Alexei Wenediktow, Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy, der in der Diskussion um Charlie Hebdo viele Islamkritiker zu Wort kommen ließ. Ihm warf Kadyrow vor, "Millionen Muslime ohne Ende mit Schmutz zu überschütten". Die Behörden müssten den Sender zur Ordnung rufen. "Sonst werden Russlands Muslime die Ausfälle Wenediktows und Co nicht ewig dulden."
Solche Drohungen äußert Kadyrow seit Jahrzehnten, mehrere Bedrohte wurden umgebracht, etwa die kritische Tschetschenien-Reporterin Anna Politkowskaja 2006. Kadyrow bestreitet, an irgendwelchen Morden beteiligt zu sein. Aber laut Saratowa gehörte Dadajews Bataillon zu Kadyrows Leibgarde. Experten bezweifeln, der Offizier sei ohne einen Wink von oben auf die Idee gekommen, Nemzow zu töten. Kadyrows Rückhalt im Kreml scheint die Affäre nicht zu schaden. Gestern wurde ein Erlass Putins veröffentlicht, Kadyrow mit dem Ehrenorden auszuzeichnen. (scholl)
Die Geheimaktion Krim
Der russische Präsident Wladimir Putin hat in einem Interview überraschend offen über seinen Befehl zur Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim vor einem Jahr gesprochen. Nach einer nächtlichen Sitzung im Februar 2014 habe er zu Vertretern der Sicherheitskräfte gesagt: „Wir müssen beginnen, die Krim zurück nach Russland zu holen“, sagt Putin in einem Trailer für eine Dokumentation. Bislang hatte Russland eine direkte Beteiligung an der Abspaltung der ukrainischen Krim-Halbinsel vehement bestritten.
In dem Film, dessen Sendetermin noch nicht genannt wurde, spricht Kremlchef Putin auch über die Flucht des ukrainischen Ex-Präsidenten Janukowitsch und den russischen Einsatz zu dessen Rettung. „Er wäre getötet worden“, sagt Putin. „Wir bereiteten uns vor, ihn aus Donezk per Land, per Wasser oder per Luft zu bringen.“
Auch über die Vorgehensweise seiner Einheiten äußert sich Putin ganz offen: Es seien schwere Maschinengewehre installiert worden, um „nicht zu viel reden“ zu müssen.