"Die Menschen müssen Vertrauen in die Justiz fassen"

Von Monika Graf aus Sofia   17.Mai 2018

Erstmals nach 15 Jahren gibt es heute einen EU-Westbalkan-Gipfel mit den sechs Erweiterungsländern. In Sofia geht es um Naheliegendes, wie stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Region, nicht aber um neue Beitritte.

 

OÖN: Frankreichs Präsident Macron sagt, er werde ohne innere Reform keiner EU-Erweiterung zustimmen. Was heißt das für Ihre Westbalkan-Strategie?

Johannes Hahn: Was den Westbalkan anbelangt, sehen die politisch Verantwortlichen klar die Sinnhaftigkeit. Der Westbalkan gehört zu Europa. Die Region ist ausschließlich von EU-Staaten umgeben und in vielfacher Weise mit der EU verbunden. Entweder wir exportieren Stabilität oder wir importieren Instabilität. Wir haben jetzt ein rein indikatives Datum genannt, das macht die Perspektive konkret.

Was kann der Westbalkan-Gipfel in Sofia bringen?

Der Gipfel ist nur eines der vielen Elemente in der Dynamisierung des Erweiterungsprozesses. Mir geht es in erster Linie um eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema; darum, auch der Bevölkerung die Sinnhaftigkeit klar- zumachen und gleichzeitig zu vermitteln, dass es keinen wie immer gearteten Rabatt für eine Mitgliedschaft in der EU gibt.

Einige EU-Staaten wollen den Gipfel boykottieren...

Es werden alle Mitgliedsstaaten vertreten sein. Wichtiger als die Symbolik ist die Substanz: Wir konzentrieren uns bei dem Gipfel auf das Naheliegende: die regionale Entwicklung. Es ist nicht gut für die Region, dass sich in den vergangenen zehn Jahren der Handel der Westbalkanländer mit Europa zwar verdoppelt hat, aber in der Region gleich geblieben ist. Es wurden künstlich Barrieren geschaffen, nur um sich voneinander zu unterscheiden. Das muss man aufbrechen und einen gemeinsamen regionalen Wirtschaftsraum schaffen. Das ist meine Handschrift: ein pragmatischer Zugang, Wandel durch Heranführung.

Die EU-Kommission hat Beitrittsverhandlungen mit Albanien und dem ehemaligen Mazedonien empfohlen. Wann?

Die Empfehlung, die sich beide Länder aufgrund von Reformfortschritten verdient haben, ist ein erster Schritt. Jetzt müssen die Mitgliedsstaaten entscheiden, ob wir Verhandlungen eröffnen. Ich hoffe sehr, dass dies geschieht.

Das Vorsitzland Bulgarien hätte am liebsten schon in Sofia eine Entscheidung. Bis wann rechnen Sie damit?

Das kann ich nicht vorhersagen, nehme aber an, dass darüber beim Europäischen Rat im Juni entschieden wird.

Der Widerstand in der EU gegen das Datum und die Erweiterungsstrategie generell ist aber groß.

In Österreich zeigt eine Umfrage der Gesellschaft für Europapolitik, dass die Erweiterungsskepsis in Bezug auf den Westbalkan zurückgegangen ist. Man muss aber sehen, dass weiter eine Mehrheit dagegen ist. Laut den Autoren hinterlässt die stärkere Beschäftigung mit dem Thema im positiven Sinn Spuren. Wir müssen verstärkt auch in den Mitgliedsstaaten kommunizieren, dass eine Integration des Westbalkan im ureigensten Sinne der EU ist. Es ist eine Investition in Stabilität und in die Entwicklung eines interessanten Marktes in unserer unmittelbaren Nachbarschaft.

Sind die Westbalkanländer tatsächlich bald EU-reif?

Wir haben von früheren Beitrittsrunden gelernt. Mit Österreich wurde zwei Jahre verhandelt, mit Kroatien acht Jahre. Die EU hat vor und während der Verhandlungen die größte Hebelwirkung. Es braucht nicht nur Gesetze, sondern sie müssen auch gelebt werden, wie es den europäischen Standards entspricht, beispielsweise im Kampf gegen Korruption. In allen post-kommunistischen Ländern waren die Polizeikräfte sehr stark, aber der Justizapparat schwach. Das muss man korrigieren, damit die Menschen Vertrauen in die Justiz fassen. Unser Schwerpunkt ist die Unabhängigkeit der Gerichte erster und zweiter Instanz, denn das betrifft massiv die Lebenswirklichkeit der Bürger.

Fragen Sie sich angesichts der Probleme in einigen EU-Ländern nicht, ob sich die Entwicklung nach dem Beitritt wieder umkehren kann?

Aus dieser Erfahrung haben wir Schlüsse gezogen und Vorkehrungen getroffen. Mit Serbien haben wir erstmals die Verhandlungen mit den Rechtsstaatlichkeits-Kapiteln begonnen und werden sie auch damit abschließen. Dieser Ansatz gilt für alle Erweiterungsländer. Wenn es während des Prozesses zu Rückschritten kommt, können wir die Verhandlungen aussetzen.