Wozu brauchen wir NS-Gedenkstätten?

Von Christian Angerer   05.Mai 2015

Ein Nachbarschaftstreffen. Wir sitzen in kleiner Runde beisammen. Welchen Beruf hast du? Wo arbeitest du? Auch ich komme dran. Ich arbeite in der Pädagogik an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Wir entwickeln das Konzept für Rundgänge und bilden Vermittler aus. Die übliche Reaktion: interessant, wichtige Arbeit.

Doch diesmal trifft das Echo nicht ein. Der junge Mann, mit dem ich spreche, sieht mich an und stellt mir eine Frage, die mich aus dem behaglichen Gleichgewicht bringt: Wozu brauchen wir solche Gedenkstätten?

Bei mir schrillen die Alarmglocken: Rechtsextremismus! Holocaustleugnung! Mein Blick zeigt mir jedoch etwas anderes. Ich sehe neugierige Augen, kein herausforderndes Grinsen. Er hat einfach eine ehrliche Frage gestellt und wartet auf meine Antwort.

Neugierde und Sensationslust

Ruth Klüger fällt mir ein. In ihrer Autobiografie „Weiter leben. Eine Jugend“ erzählt sie von ihren Beobachtungen zur Rolle der Gedenkstätten. Sie stellt dieselbe Frage: „Bewahrung der Stätten. Wozu?“ Ihre Antworten fallen ernüchternd aus: Die Gedenkstätten gäben nichts von dem wieder, was diese Orte einst als KZ bedeutet haben. Nichts sei weiter von der Konstellation Gefängnis und Häftling entfernt als die Konstellation Gedenkstätte und Besucher. Die Menschen kämen in der Regel mit Touristenneugier und Sensationslust, und die Gedenkstätten würden ihnen zu sentimentaler Selbstgerechtigkeit Anlass geben.

Wozu also Gedenkstätten? Zur „Selbstbespiegelung der Gefühle“, ließe sich mit Ruth Klüger antworten. Aber das hat mein Nachbar nicht gemeint. Was er seiner Frage hinzufügt, läuft auf eine andere Form von Psychohygiene hinaus. Er sagt, der Nationalsozialismus und seine Verbrechen seien 70 Jahre her, die meisten Menschen, die diese Zeit erlebt haben, seien tot. Warum das Schreckliche von damals quälend vergegenwärtigen?

Zunächst wurde in Deutschland und Österreich über die Schuld an den NS-Verbrechen und in Israel über die Erfahrung der Vernichtung nicht geredet – vielleicht die Voraussetzung dafür, dass persönlich und kollektiv Neues aufgebaut wurde. Doch das Verdrängte blieb als zerstörerische, weil unbearbeitete Substanz in Familien und der Gesellschaft wirksam. Es wühlte sich an die Oberfläche, zeigte seine ungeheure Dimension, wurde Frage, Thema, Streitpunkt, Ärgernis, Politikum… Nun wird es besprochen, durchdacht und noch einmal durchlebt.

Dana Giesecke und Harald Welzer plädieren in ihrem Buch „Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“ dafür, dass sich der Umgang mit NS-Verbrechen „nicht um eine negative Geschichte zentrieren soll, sondern um die Möglichkeiten gelingenden Zusammenlebens“. Junge Menschen sollen zur Partizipation in einer demokratischen und solidarischen Gesellschaft befähigt werden. Der Nationalsozialismus veranschauliche, wie in einem sozialen Prozess eine mörderische Ausgrenzungsgesellschaft entsteht, an der die meisten aktiv mitwirken, während sie sich moralisch integer fühlen. Und es zeige, wie andere Handlungsspielräume wahrnehmen, um Ausgestoßenen zu helfen.

Menschen besuchen Gedenkstätten, weil sie sich vom Schrecklichsten eine Vorstellung machen wollen. Es sind emotionale Orte, an denen sich unterschiedlichste Gefühle regen. Sie sind da, pädagogisch erwünschte wie unerwünschte: Entsetzen, Angst, Schuld, Mitleid, Trauer, Empörung, Wut, Faszination, Aggression, Sensationsgier. Dass solche Gefühle ausgelebt werden und Ausdruck finden können, darin sieht der Kinderpsychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer eine Funktion von Gedenkstätten.

Mauthausen, Gusen, Ebensee – das sind offene Wunden. Können sie jemals verheilen, angesichts dessen, was dort geschah? Die breite mediale Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und die Besucherzahlen der Gedenkstätten belegen die erregende Präsenz der Geschichte.

Welche Antwort habe ich also meinem Nachbarn gegeben: Klüger, Welzer, Hochgatterer – sie sind mir erst später eingefallen. Ich habe ihm gesagt, was mir sofort in den Sinn kam. Indem NS-Gedenkstätten da sind, mitten in unserer Lebenswelt, führen sie uns vor Augen, dass die Verbrechen in die Gesellschaft eingebettet waren. Zwischen Wachmannschaften und gesellschaftlichem Umfeld entwickelten sich wirtschaftliche, kulturelle und persönliche Beziehungen, es wurde Handel getrieben, Fußball gespielt, geheiratet. Die Verbrechen waren offensichtlich, doch alle beschlossen, über das offene Geheimnis zu schweigen. Man gewöhnte sich daran in einer gemeinsam geschaffenen „Normalität“.

Gedenkstätten werfen Fragen auf

Die KZ-Welt war kein eigenes Universum, keine verrückte Parallelwelt, wie es den Häftlingen aus ihrer Perspektive erscheinen mochte, sondern integraler Bestandteil der Gesellschaft. Die NS-Gedenkstätten mitten unter uns zeigen: Die Rolle der unschuldigen Zuschauer bleibt uns verwehrt. Wir treffen Entscheidungen. Wir sehen die Handlungsspielräume, oder wir nehmen sie nicht wahr.

Gedenkstätten sind Orte, die solche Fragen aufwerfen. Diese Orte sollen nicht durch Schrecken stumm machen, sondern zum Austausch über Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken ermutigen.

Seit unserem Nachbarschaftstreffen sind einige Monate vergangen. Manchmal begegne ich meinem jungen Nachbarn, wir grüßen uns. Ich muss ihm einmal sagen, dass ich seine Frage gut finde.

Wozu brauchen wir NS-Gedenkstätten?

 

Christian Angerer (55) ist Germanist, Historiker und Lehrer am Khevenhüller-Gymnasium Linz sowie Lehrender für Geschichte an der Pädagogischen Hochschule. Angerer ist außerdem Mitarbeiter in der Pädagogik an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Im StudienVerlag erschien zuletzt das Buch „Nationalsozialismus in Oberösterreich“ (Ch. Angerer/M. Ecker); 24,90 Euro

 

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