"Ihr habt mich befreit, aber was soll ich mit meinem Leben machen?"

02.Mai 2015

Nur noch 45 Kilo wiegt der 1,80 Meter große Simon Wiesenthal, als die Amerikaner am 5. Mai 1945 das KZ Mauthausen befreien. Noch weiß er nicht, dass seine Frau Cyla überlebt hat. Noch denkt er, sie sei von den Nazis ermordet worden, ebenso wie 89 weitere Mitglieder seiner Familie. Als die Befreier dem einstigen Architekten nahelegen, wieder in seine alte Heimatstadt Lemberg zurückzukehren und Häuser zu bauen, ist seine Antwort: "Leute wie ich brauchen keine Häuser, wir haben mehr verloren als Häuser" – nicht wissend, was er mit seinem Leben machen soll, für wen er weiterleben soll.

Aufgrund seiner umfangreichen Kenntnisse raten die Amerikaner Wiesenthal eine Woche nach der Befreiung, sein Wissen aufzuschreiben. "Sie haben mir Papier, Tinte und Feder gegeben, ich habe vier Tage über jedes KZ, in dem ich war, alles aufgeschrieben und es in Form eines Briefes dem Militärkommandanten übergeben", erzählt er 1995 in einem Interview. Neben einem Lebenslauf enthält das Dokument die erste von ihm verfasste Liste von NS-Tätern. 91 Namen stehen auf dem Papier. Es ist der 20. Tag nach der Befreiung des KZ Mauthausen. Es ist auch der Beginn seines Kampfes gegen NS-Verbrecher und für Gerechtigkeit. Ein Kampf, der sein Lebensinhalt werden und ihm den Namen "Nazi-Jäger" einbringen sollte.

Wiesenthal arbeitet in Linz zunächst für den militärischen Geheimdienst (OSS), später für die amerikanische Spionageabwehr (CIC). Er sammelt Zeugenaussagen von Überlebenden in den für jüdische Flüchtlinge eingerichteten Lagern, erstellt Listen von NS-Tätern und ist befugt, selbst Verhaftungen vorzunehmen. Ein Großteil der etwa 2000 NS-Verbrecher, die vor Gericht gebracht werden konnten, werden in dieser Zeit ausgeforscht.

Eigenes Büro in Linz

Doch Wiesenthal will nicht nur die NS-Verbrecher jagen, sondern auch den Opfern helfen. Im September 1946 gründet ein jüdisches Komitee von Überlebenden aus dem KZ Mauthausen, das bei Familienzusammenführungen hilft. Als die Zusammenarbeit mit dem CIC endet, ruft er in Linz sein eigenes privates Büro zur Ausforschung von NS-Verbrechern ins Leben, die "Jüdische Historische Dokumentation". Von zwei kleinen Zimmern in der Gruberstraße aus nimmt er mit 30 jungen Mitarbeitern die Arbeit auf. "Ich sah, dass sich in den amerikanischen, englischen, französischen Internierungslagern hunderte, tausende Nazis befanden, gegen die man Zeugen suchte." Wiesenthal entwirft Fragebögen und hat am Ende nach eigenen Aussagen Zeugen für Verbrechen, die an ungefähr 1000 Orten Europas begangen worden waren. Über seine Arbeit in Linz schreibt er später in seiner Biographie: "Wenn Sonntag ein Regentag war und die Leute zu Hause gesessen sind, wissen Sie, was sie gemacht haben? Sie haben ihre Nachbarn angezeigt in anonymen Briefen an uns. Am Montag: Wäschekörbe! Nur wenn der Sonntag ein Regentag war. Ja, das war so. Es gab hunderte Informanten, die vorbeikamen."

1954 schließt er das Büro in Linz, das öffentliche Interesse an der Verfolgung von NS-Tätern schwindet stark, die Arbeit wird immer schwieriger. Die bisher angesammelten Akten werden an die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem geschickt. "Zurückbehalten habe ich mir nur einen dicken Aktenordner. Das Eichmann-Dossier." Die Suche nach Adolf Eichmann, dem zentral Verantwortlichen für die Ermordung von Millionen Juden in Europa, ist Wiesenthals persönlichster und wichtigster Fall. Aufgrund seiner Nachforschungen konnte der in Linz aufgewachsene SS-Obersturmbannführer 1961 in Argentinien aufgespürt und in Israel vor Gericht gestellt werden, ebenso wie etwa der Wiener Polizist Karl Silberbauer, der Anne Frank verhaftet hatte, Franz Stangl, Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka, sowie der "Schlächter von Vilnius", Franz Murer.

Nach eigenen Angaben beschließt Wiesenthal nach dem Eichmann-Prozess, das Büro wieder zu öffnen, diesmal in Wien. (rofi)