Vom Krieg traumatisierte menschliche Wracks

Von Michael Wruss   16.April 2019

In der 1733 am King’s Theatre am Londoner Haymarket uraufgeführten Oper "Orlando" geht Georg Friedrich Händel neue Wege in der Gestaltung speziell der Rezitative, die passend zur Handlung zu großen Szenen ausgebaut werden. Eine Herausforderung nicht nur für die damalige Sängerwelt, sondern auch für das Produktionsteam am Theater an der Wien, wo die Oper am Sonntag Premiere feierte.

Claus Guth entzaubert die Geschichte gehörig und zeigt einen abgewrackten Helden, der schwer traumatisiert aus dem Krieg zurückkehrt und auch vom im Stück als Zauberer bezeichneten Zoroastro nicht zu ruhmreichen Taten bekehrt werden kann. Vielmehr verschreibt er sich der Liebe. Doch als er Angelikas Untreue erkennt, rastet er aus und wird zu jenem "Orlando furioso", wie ihn Ariost in seinem Epos beschreibt. Kein historischer Stoff für Claus Guth, der mit Ausstatter Christian Schmidt die Oper irgendwo in den amerikanischen Raum mit Palmen und einst mondäner Villa verlegt und in Orlando einen jener Kriegsheimkehrer präsentiert, der mit der realen Welt nicht zurechtkommt.

Einblicke in die Seelenlandschaft

Dadurch entsteht ein packender Stoff, der selbst die dreieinhalb Stunden Aufführungsdauer spannend bleibt und geschickt verschiedene Einblicke in die Seelenlandschaft der fünf Protagonisten gewährt. Man kann über Guths Lesart geteilter Meinung sein, aber die Perfektion, die er in der Arbeit mit den Sängern zeigt, ist überwältigend. So kann jeder seine Rolle entwickeln und wirkt als glaubwürdiger Charakter, allen voran Christophe Dumaux als wahnsinnig gewordener Antiheld, der nicht nur körperlich diese extreme Gereiztheit auszudrücken versteht, sondern auch seinen Countertenor bestens in Szene setzt und dabei eine Vielfalt an Affekten herüberbringt.

Raffaele Pe überzeugt in der Rolle des sensiblen und doch nicht vertrauenswürdigen Gegenspielers Medoro. Auch er versteht es, Dramatik und lyrische Leidenschaft zu verbinden. Angelika ist hin- und hergerissen zwischen Liebe und Treue, was Anna Prohaska großartig umzusetzen versteht und dabei auch stimmlich die Grenzen der Emotionalität auszureizen bereit ist. Giulia Semenzato begeistert als fein phrasierende und zwischen Naivität und grübelndem Nachsinnen schwankende Dorinda, und Florian Boesch überzeugt als Zoroastro. Es gelingt ihm brillant, eine gespaltene Persönlichkeit zu entwickeln, die einerseits Orlando zurück zur kriegerischen Tugend führen will, aber vom weisen Vertrauten zum abgewrackten Sandler mutiert. Herausragend war auch Giovanni Antonini mit seinem beeindruckend musizierten "Il Giardino Armonico", der mit unglaublicher Variabilität die Musik der jeweiligen Situation anpasste.

Fazit: Ein großer Abend, der in allen Belangen überzeugte, vor allem von der musikalischen Seite.

Theater an der Wien: Premiere von Georg Friedrich Händels Oper "Orlando", 14. April