Eine Seereise zwischen Kindheit und Jugend

Von Christian Schacherreiter   16.Mai 2012

Mit seinem in den neunziger Jahren erschienenen Roman „Der englische Patient“ wurde der aus Sri Lanka stammende Michael Ondaatje weltberühmt. Die Verfilmung von Anthony Minghella (1996) erhielt neun Oscars. In seinem jüngsten Roman „Katzentisch“ schickt Ondaatje drei Buben im Jahr 1954 auf eine langwierige, aber kurzweilige Seereise. Ein Ozeandampfer ist ein ergiebiger Handlungsraum für einen Roman, insbesondere dann, wenn das Schiff eine so lange Strecke wie die von Sri Lanka nach England zurücklegen muss.

Auf der „Oronsay“ kommt illustres Romanpersonal zusammen, und das wochenlange Zusammensein erzeugt unkonventionelle Situationen. Für drei Burschen, die gerade im Übergangsbereich von der Kindheit zur Jugend herumirren, wird diese Reise zu einem intensiven Erlebnis. Ondaatje erzählt den Roman aus der Perspektive des Knaben Michael, genannt Mynah. Seine Reisegefährten heißen Cassius und Ramadhin. Die Burschen folgen dem Rat des Barpianisten Mister Mazappa, Augen und Ohren stets offen zu halten. So wird die Reise für sie zu einer Lebensschule der anderen Art, aufregend, verwirrend, bisweilen gefährlich, denn die drei nehmen sich vor, jeden Tag ein Verbot zu überschreiten.

Der Katzentisch, dem der Roman seinen Titel verdankt, ist ein Ort in der sozialen Tallage. Es handelt sich um den Tisch im Schiffsrestaurant, der vom Kapitänstisch am weitesten weg ist. Dort haben Michael, Ramadhin und Cassius Platz genommen. Was den Reisenden am Katzentisch an Glanz und Ehre vorenthalten bleibt, wird durch die Originalität der Tischgenossen wettgemacht.

Da sitzt etwa Mister Mazappa, eine schräge Figur, halb sizilianisch, halb undefinierbar asiatisch, ein Lebenskünstler, der angeblich wahre Anekdoten aus seinem bunten Leben verbreitet. Der Botaniker Mr. Daniels hat seine giftige Pflanzenwelt im Maschinenraum des Schiffs untergebracht und gewährt den drei Burschen nicht nur optischen Zugang zu seinem fragwürdigen Reich.

Eine ältere Dame führt ihre Brieftauben spazieren und wirft Kriminalromane, die sie langweilen, verärgert ins Meer. Ein angeblicher Baron nützt die Reise für systematischen Diebstahl und hält Mynah für einen brauchbaren Komplizen. Und dann ist da auch noch Cousine Emily – die erste erotische Verwirrung für Mynah. Verwirrt scheint sie aber auch selbst zu sein, als sie sich dazu hinreißen lässt, sich an der Befreiung eines Schwerverbrechers zu beteiligen, der sich auch an Bord befindet.

„Katzentisch“ ist ein Adoleszenzroman, der sich des Reisemotivs bedient. Nicht das äußere Erlebnis steht im Vordergrund, sondern die innere Veränderung des jungen Ich-Erzählers. Mynah nimmt nicht nur Abschied von Sri Lanka, er nimmt auch Abschied von der Naivität und Unschuld. Als ihn die Mutter in England empfängt, spürt er eine Kälte, die nicht nur dem englischen Wetter angelastet werden kann.

Das Buch: Michael Ondaatje: „Katzentisch“. Roman. Aus dem Englischen von Marlene Walz. Hanser, 298 Seiten, 20,50 Euro.