Die Rückkehr ans Ufer der eigenen Jugend

Von Peter Grubmüller   24.Juli 2012

Sagen Sie nach der durchwachten Nacht nicht, es hätte Sie niemand gewarnt. Sten Nadolnys neues Buch „Weitlings Sommerfrische“ legt niemand vor der letzten Seite aus der Hand, dem Lebensklugheit und überraschende Wendungen maßgebliche Essenzen einer packenden Lektüre sind.

„Nicht schon wieder eine Zeitreise“, werden Sie denken, aber wie Nadolny mit seinem Alter Ego Wilhelm Weitling nach einem Segelbootunfall auf dem Chiemsee Fahrt in die eigene Jugend aufnimmt, ist wunderbar erdacht. Die Namensgebung stammt nicht aus dem Ungefähren, Wilhelm Weitling war einst einer jener raren Frühsozialisten, die Karl Marx und Friedrich Engels als Gegenredner gestatteten. Und wie Nadolnys John Franklin in „Die Entdeckung der Langsamkeit“, wie sein Selim in „Die Gabe der Rede“ und wie sein Hermes aus „Ein Gott der Frechheit“ ist auch Wilhelm der besondere Blick auf Vergangenheit und Gegenwart, auf andere und sich selbst gestattet.

Nachdem er auf dem See vom Blitz getroffen wird, begleitet er sich beim Erleben seiner Jugend im Jahr 1958. Als gespenstischer Satellit beobachtet er in sechs von neun Kapiteln die Welt. Er rügt den 16-jährigen Willy, wenn dieser in der Schule schwächelt, raucht oder sich in die Falsche verliebt. Er wundert sich darüber, wie sie damals alle noch jungen Nazis ähnlich waren. All das bemerkt er, ohne zu dem Jungen durchzudringen.

Andererseits beschert dieser nebelige Zustand zwischen literarischer Fantasie und realen Kindheitserinnerungen wunderbare Möglichkeiten, dem Schicksal kleine Schubser zu geben. Warum hat Wilhelm nicht Roswitha geheiratet, sondern die von ihm bis ins hohe Alter verehrte Astrid? Wie wäre es gekommen, wenn nicht sein Vater, sondern die aus adeligem Hause stammende Mutter literarische Erfolge gefeiert hätte? Und über all dem jongliert Nadolny mit den Fragen über Gott und ob es ein Leben nach dem Tod oder gar zwei davor gibt. Erst als sich Wilhelm mit seinem Vorleben versöhnt, tritt er erneut ein in die ursprüngliche Welt. Allerdings nicht, wie im Traum vermutet, als für seine milden Urteile bekannter Richter, sondern wie der reale Sten Nadolny – als Geschichtslehrer, der erst gegen Ende 30 mit dem Schreiben begonnen hat.

Nadolny ist ironisch, ohne bissig zu werden, er kreiert Poesie, ohne sich von der Idylle gefangen nehmen zu lassen. Nadolny ist ein genialer Erzähler.

 

Sten Nadolny: „Weitlings Sommerfrische“, Roman, Piper, 219 Seiten, 17,50 Euro.

Sten Nadolny "Weitlings Sommerfrische"
Sten Nadolny "Weitlings Sommerfrische"