Wie viel Wahrheit verträgt eine Familie?
Großartige Uraufführung von "Jedermanns Schuld und Sühne" der Theaterzeit Freistadt
Lässt sich aus Hofmannsthals "Jedermann", Ibsens "Wildente" und Dostojewskis "Schuld und Sühne" etwas Dramatisches von Bedeutung flechten, das nicht wie ein alter Zopf von der Bühne hängt? Der Mühlviertler Regisseur und Autor Ulf Dückelmann demonstriert dies nicht nur, mit "Jedermanns Schuld und Sühne" knallte er am Freitag etwas völlig Neues und die wohl überwältigendste Uraufführung der vergangenen Jahre in die Freistädter Messehalle. Ein Triumph des gesamten Ensembles und des 42-Jährigen, der von Bundesbühnen und vom Landestheater geflissentlich übersehen wird.
Auf dem Boden der Halle sind Hackschnitzel verstreut. So weich und uneben kann der Boden gar nicht sein, dass er nicht zum Fundament für Familien und Karrieren taugt. Christian Jedermann ist ein Investment-Banker von Gottes Gnaden, und genau diesen Gott fürchtet er jetzt. Der kalkulierende Drecksack kauert im Waldhaus in der Einöde, wo sich einst sein Vater vermeintlich umgebracht hat. Seine Familie reist an, weil er mit der Krücke der späten Wahrheit seinen Sühne-Prozess ins Laufen bringen will. Aber wie viel Wahrheit tut einer Familie gut?
Till Bauer führt das Ensemble
Till Bauer bändigt Dückelmanns Text-Bestie grandios und entwickelt als Jedermann einen verführerischen Magnetismus, der über dreieinhalb Stunden nicht lockerlässt. Anna Pavlova verinnerlicht Hofmannsthals Allegorien "Gute Werke" und "Glaube", im Halbdunkel spielt sie Klavier. Sie verschwindet in der Dunkelheit, taucht wieder auf und wird von allen für eine stumme Haushälterin gehalten. Maria Knierzinger ist ein furios verhärmtes, tablettensüchtiges Jedermann-Mutter-Weib, das den Vater umgebracht und die Kinder gedemütigt hat. Die Buhlschaft als Ministerpräsidentin zu denken, die Staatsgeld in Jedermanns faule Wertpapiere gepumpt hat, ist eine der schönen Dückelmann-Finten: Er beleuchtet die gewöhnlich kleine Frauenfigur als Strippenzieherin. Zusammen mit Jedermanns Geschäftspartner Peter bettelt sie nun um Rettung. Susanna Wurm und David Zimmering balancieren diese Figuren zwischen großer Eleganz, falscher Liebe und fieser Berechnung.
Jedermanns Schwester Maja hat zu viel erlebt (Abtreibung, Pflege der Mutter, 14 vergeudete Ehejahre), um sich noch Liebenswürdigkeiten zu gestatten. Lieber Schnaps. Susanna Bihari operiert in dieser Rolle am offenen Zuschauerherzen und pumpt Emotionen durch den Körper, für die es keine Impfung gibt. Als ihr Bühnengatte Jan zelebriert Thomas Werrlich das Kunststück, Verständnis für sein Fremdgehen herzustellen.
Die Schlinge zieht sich zu, als Maja Jedermann davon abhalten will, ihrem Bruder Jonas (ein ringender, liebender Witwer: Karl Wenninger) den größten Betrug zu offenbaren: Sein gottgleich verehrtes Kind (die entzückende Zita Geier) ist nicht von ihm, sondern von Jedermann.
Mit ironischen Überhöhungen drehen Karl Hofer und Herta Hemmelmayr als Onkel Charly und Tante Hanna die Schraube noch tiefer ins wurmstichige Familienholz. Nichts davon wird übrig bleiben, weil der mit herausragender Stimme ausgestattete Wolfgang Hundegger als famoser Teufel die Axt schwingt.
Wer ist im Leben wann falsch abgebogen? Wie ist die Kette des Missbrauchs zu durchschlagen? Ist Empathie ein Todesurteil – und siegt der Egoismus in jedem Fall? Dückelmann versteht seine Schauspieler so zu führen, dass nicht nur sie, sondern auch die Zuschauer zu Teilnehmern werden.
Bewegender Applaus mit Standing Ovations – nach einigen Minuten der Stille.
Fazit: Ein großer Theater-Wurf, in dem jeder ein Stück eigenes Leben aufspürt. Wenn es Gerechtigkeit gibt, regnet es in Freistadt Publikum und Theater-Preise.
Theaterzeit Freistadt: "Jedermanns Schuld und Sühne" von Ulf Dückelmann (auch Bühne und Regie), Uraufführung: 20. Juli, Termine: 26., 27., 28.Juli; 2., 3., 4. August, Info/Karten: 0678/1291630, tickets@theaterzeit.at, www.theaterzeit.at