"Martin Luther war einer der größten Verbrecher der deutschen Geschichte"

Von Peter Grubmüller   11.November 2017

Richard David Precht, der prominenteste Philosoph der deutschsprachigen Gegenwart, hat sich in den Kopf gesetzt, die Weisheit der Menschheitsgeschichte ins Verständliche zu übersetzen, ohne sich beim RTL-Fernsehpublikum anzubiedern. Er tut das mit einer Trilogie, deren zweiter Band "Erkenne dich selbst" (nach "Erkenne die Welt") nun erschienen ist.

Der 53-Jährige nimmt darin seine Leser an der Hand, um die Gedankenwelt von der Renaissance bis zur Aufklärung gemeinsam zu durchforsten.

Precht mag es auch sportlich, also strengt er gegen Ende der 672 Seiten die vier Achttausender an, die man besteigen müsse. Damit meint er die vier Idealisten Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. "Ich kann mir die Philosophen ja nicht aussuchen", sagt Precht, "ich kann mir nur aussuchen, wie ich sie gewichte."

Einen gewichtet er gerne dazu, obwohl er kein Philosoph war: Martin Luther. Precht: "Aber er hat den Zeitgeist am stärksten beeinflusst und viel Philosophisches ausgelöst. Wenn man bedenkt, dass alle Idealisten aus protestantischen Elternhäusern kamen, musste ich den Erfinder des Protestantismus unbedingt dazunehmen. Und ich sage Ihnen, wenn man versucht, Luther realistisch darzustellen, bleibt an ihm nichts Gutes übrig."

Die evangelische Kirche habe Luther über Jahrhunderte verkitscht. Nach heutiger Vorstellung sei Luther "eher ein Taliban" gewesen – wer nicht mit ihm war, war gegen ihn. So in etwa, sagt Precht: "Schlagt alle Juden tot, genauso wie die rebellischen Bauern. Man muss sich das im 15., Anfang des 16. Jahrhunderts vorstellen, da war einer, der sagte: ,Nehmt die Bibel nicht ernst, sondern wörtlich.’" Die meisten Philosophen zu Luthers Zeit hätten zu erklären versucht, dass die Bibel ein Märchenbuch sei, wenn man sie wörtlich nimmt, stattdessen gehe es um humanistische Werte-Metaphorik. Precht: "Und dann dreht Luther das Rad zurück, weil er will, dass die Menschen wieder an Adam und Eva glauben." Dieser Rückschritt habe den 30-jährigen Krieg mitverschuldet. Precht: "Ich sage Ihnen: Luther war einer der größten Verbrecher der deutschen Geschichte."

Ob es einen Philosophen gibt, mit dem er sich für das Buch erstmals intensiv beschäftigt hat? "Doch", sagt Precht, "Gottfried Wilhelm Leibniz. Um den drückt man sich gerne, weil es die Leibnizsche Philosophie nicht gibt." Der Mann habe wahnsinnig viel geschrieben, das meiste davon auf Latein, und ein großer Teil sei gar nicht übersetzt. Precht: "In den 20er-Jahren hat man angefangen, die große Leibniz-Ausgabe zu editieren, und von den 100 geplanten Bänden sind nur 40 erschienen – seit 1922." Obendrein hätten nur wenige von Leibniz’ Texten mit Philosophie zu tun. "Was ich sehr sympathisch an Leibniz finde, ist die Tatsache, dass er sein Geld nie als Philosoph verdient hat, sondern damit, dass ihn der Welfen-Herzog in Hannover eingestellt hat, um die Welfenhaus-Geschichte zu schreiben. Er hat mit einer Bestandsaufnahme der niedersächsischen Urgeschichte angefangen."

Vordenker der Digitalisierung

Bis zum Welfenhaus ist er nie gekommen, weil sich Leibniz für alles Mögliche interessiert hat. "Lieber beschäftigte er sich mit Schriftzeichen, ob man etwa die Welt mit 0 und 1 codieren kann." So wurde Leibniz zum Vordenker der Digitalisierung. Precht: "Mein Vater ist wie Leibniz. Man stellt ihm eine Frage, und er fängt mit elementaren Grundlagen an, sodass es nie zu einer Beantwortung kommt." Bei Precht Sohn ist das anders.

Richard David Precht: "Erkenne dich selbst", Goldmann, 672 Seiten, 24,70 Euro.