Die Geheimnisse einer Außenseiterin

Von Peter Grubmüller   13.Jänner 2018

"Sie macht keine Mühe, am liebsten steht sie und schaut." Mit diesem Satz eröffnet Bernhard Schlink nicht nur seinen neuen Roman "Olga", sondern er gestaltet ausgehend von diesem Bild das Leben einer Frau, die mit Kassandrablick die Katastrophen des 20. Jahrhunderts betrachtet.

Schlink ist einer der klügsten literarischen Analytiker der deutschen Geschichte. Der 73-jährige Jurist war 19 Jahre lang Richter am Verfassungsgerichtshof in Nordrhein-Westfalen. Irgendwann begann er nebenbei Kriminalromane zu schreiben, in denen er Gesetze als untaugliche Instrumente für manche Herstellung von Gerechtigkeit nachwies. Sein viertes Buch "Der Vorleser" wurde 1995 zum Welterfolg und zwölf Jahre später von Regisseur Stephen Daldry verfilmt (Hauptrollen-Oscar für Kate Winslet). Und auch darin dekliniert er die Fragen, wie über eine aus Analphabetismus zur Nazi-Kollaborateurin gewordenen Frau Jahrzehnte später zu urteilen sei.

Von Pathos bis Plauderton

In seinen Romanen "Das Wochenende" (2008) und "Die Frau auf der Treppe" (2014) hat sich Schlink dem Terror der RAF zugewandt, mit "Olga" zieht es ihn erneut in die weiter zurückliegende Geschichte. Die kleine, mittellose, aber strebsame Olga aus Pommern wächst bei ihrer emotional erkalteten Oma auf. Von klein auf eine Außenseiterin, interessiert sie sich für ähnlich gestrickte Persönlichkeiten. Folgerichtig verliebt sie sich in den von Fernweh getriebenen Herbert, einen am Rande der Gesellschaft balancierenden Sprössling eines vermögenden Gutsherren. Nach drei Jahren des Umgarnens kommen sie erwachsen zusammen. "Olga erlebte die Wochen wie einen Tanz, in dem sie umeinander wirbelten und dann wieder still ineinander ruhten." Schlink gewichtet Pathos und Plauderton mit großer Sensibilität, ohne jemals zu dick aufzutragen.

Erst nach gut 100 Seiten wird klar, dass es Ferdinand ist, der hier erzählt und der die aus dem Osten nach Heidelberg geflohene, bei seinen Eltern als Näherin arbeitende und nach dem Krieg taub gewordene Olga bis zu ihrem Tod begleitet. Ihrer Lebensgeschichte folgt er mit Empathie, er versteht ihren Zorn über die hirnrissigen Bismarck-Ideale, die ihre Lebensliebe Herbert zuerst in den Kampf nach Afrika und in den Tod im ewigen arktischen Eis, wo er die "weiße Wüste" erobern wollte, geführt haben. Olga schreibt Herbert noch viele Jahre Briefe, adressiert an den Ausgangspunkt von dessen Expedition.

Der Wortlaut dieser Briefe bildet den dritten Teil des Romans, Erster und Zweiter Weltkrieg sowie die studentischen Aufstände der 1960er-Jahre werden hier eingeordnet. Ferdinand hatte sich nach Skandinavien aufgemacht und diese Briefe aufgestöbert. Dramaturgisch raffiniert schließen sie die Lücken der Erzählung und vollenden das Bild dieser Frau samt ihrer Geschichte.

Schlink hat einen Roman geschrieben, der aus seiner Intimität ein ganzes Jahrhundert auffächert.

Die Geheimnisse einer Außenseiterin

Bernhard Schlink: "Olga", Roman, Diogenes Verlag, 320 Seiten, 24,70 Euro.

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