Der mächtigste Strippenzieher der Kunstwelt in Linz

Von Peter Grubmüller   08.September 2017

Wenn dieser Schweizer in Ausstellungen ein Kunstwerk um wenige Minuten länger als andere betrachtet, hat sich dessen Wert verzehnfacht. Hans Ulrich Obrist ist künstlerischer Leiter der Londoner Serpentine Galleries und der einflussreichste Kunstkurator der Welt. Diesen Titel hat er mit Brief und Siegel, er wurde ihm vom weltweit führenden Kunstmagazin "ArtReview" 2016 schon zum zweiten Mal zuerkannt. Beim Linzer Ars Electronica Festival sprach der 49-Jährige gestern im Rahmen der "Gluon Session" über Modelle einer Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftern.

Obrist denkt über seine Bedeutung als Strippenzieher der Szene nicht nach – auch nicht über die Macht, die er mit seinen Einschätzungen ausübe. "Ich erledige bloß meine Arbeit, aber ich freue mich, wenn diese Arbeit nützlich ist", sagt er im Gespräch mit den OÖN.

Im Alter von elf Jahren hat er sich in Giacomettis großartig ausgemergelte Bronze-Figuren verliebt, ab 15 suchte er obsessiv nach Begegnungen mit Künstlern. 1993, als er 24 war, überredete Obrist 70 der gefragtesten Künstler dazu, ihre Werke auf den zwölf Quadratmetern seines Zimmers in einem Pariser Zwei-Sterne-Hotel auszustellen. Heute rennen ihm die Kunststars hinterher.

50 Tassen Espresso pro Tag

Durch die Linzer Postcity – das pochende Herz des Festivals – schlendert Obrist halbwegs unbelästigt, aber nicht entspannt. Einer wie er jagt in einem fort das Neue. Wachsein ist oberstes Gebot in der Kunstwelt, und weil Obrist sein Vielflieger- und Vielredner-Pensum durchhalten muss, habe er einst auf die Balzac-Methode (50 Tassen Espresso pro Tag) vertraut. Nach seinem Zusammenbruch im Anschluss eines von ihm initiierten 24-Stunden-Interview-Marathons stellte er auf Leonardo da Vincis Gewohnheiten um: alle drei Stunden 15 Minuten Schlaf.

"Wer die Kunst der Gegenwart verstehen will, der muss wissen, was in der Wissenschaft passiert, der muss auch von Musik genauso Ahnung haben wie von Literatur. Es geht nicht mehr darum, die Arbeiten von Künstlern auszustellen, sondern wer das 21. Jahrhundert verstehen will, muss alle Disziplinen zusammenbringen", sagt Obrist, der auch mit der Wiener Lyrikerin Friederike Mayröcker zusammengearbeitet hat.

Das Spannende am Einsickern der Digitalisierung in die Kunst seien sich auf Algorithmus-Basis ständig verändernde Arbeiten. Natürlich öffne sich auf diese Weise auch ein neuer Kunstmarkt. Kein Mensch werde sich einen "Loop" (Film in Endlosschleife) der bisherigen Medienkunst daheim aufstellen, sondern eher Werke des US-Amerikaners Ian Cheng. Obrist: "Seine Arbeiten entwickeln sich über 20, 30 Jahre wie ein Lebewesen, weil seine Simulationen lernen und sich ändern." Obrist bevorzugt es, diese Kunst kostenfrei – dem Ursprungsgedanken des World Wide Web folgend – zugänglich zu machen. "Auf unserer Homepage serpentinegalleries.org kann jeder gratis Chengs App ,Corgi‘ herunterladen. Corgi ist ein Hund, der nicht wirklich tut, was man von ihm will – lassen Sie sich überraschen", sagt Obrist. "Und große, wichtige Kunst macht aus, dass man sie immer wieder anschauen will."

Wohin die digitale Kunstreise geht, vermag Obrist dennoch nur zu erahnen. "Stellen wir uns vor", sagt er, "wir sitzen im 19. Jahrhundert in der Oper und plötzlich kurbeln Menschen per Hand ein Bühnenbild an uns vorüber. Quasi als Vorstufe des Kinos. In dieser Kurbel-Phase befinden wir uns in der digitalen Kunst. Aber ich versichere, es wird spannend."

Film-Rundgang durch die Linzer Postcity: