Der isolierte Mensch

Von Roswitha Fitzinger   01.Februar 2014

Mit ihrem Buch "Die Burn-out-Lüge" hat Martina Leibovici-Mühlberger aufhorchen lassen. Für sie sind weder mangelnde Belastbarkeit noch schlechte Arbeitsplätze Auslöser für die zunehmende Ausgebranntheit unserer Gesellschaft. Wir leben in einer Ego-Gesellschaft, sagt die Wiener Ärztin: Unser ganzes Leben sei konsumgesteuert, oftmals sinnentleert. Die Leistungsgesellschaft habe viele narzisstische Individuen hervorgebracht, die ständig das eigene Ich zelebrieren und sich immer mehr isolieren.

Aber wie führt man ein sinnerfülltes, befriedigendes und glückliches Leben – ohne Burnout? Drei Faktoren sind ausschlaggebend, sagt Leibovici: Einbettung in ein Beziehungsnetzwerk (love), sinnfüllende Arbeit (work), spirituelle Entfaltung (pray).

 

OÖN: Sie sind nach eigenen Angaben selbst lange der Burnout-Lüge aufgesessen. Wann hat es klick gemacht?

Martina Leibovici-Mühlberger: Das war ein Prozess. Burnout hatte lange zwei Komponenten: zum einen der enorme Arbeitsdruck, bei dem zunehmend die Arbeitgeber als Burnout-Treiber gebrandmarkt wurden. Zum anderen die Komponente des schwachen Menschen, der, in seiner Kindheit geschädigt, sich nicht durchsetzen kann und aufgrund seiner mangelnden Belastbarkeit ausbrennt. Ich habe viele Coachings gemacht und auch viele Patienten gehabt, die in dieses Profil nicht passten. Für mich waren diese Begründungen unbefriedigend, und ich habe mich weiter damit beschäftigt.

Sie sagen, es gebe keine Opfer und keine Täter, sondern das System sei verantwortlich. Eine sehr abstrakte Begründung. Was schwächt uns tatsächlich?

Letztlich ist es das System, in das wir hineingeschlittert sind. 2011 habe ich das Resonanz-Interdependenz-Modell entwickelt: Es gibt arbeitsspezifische Komponenten, dann persönliche und den großen Bereich der gesellschaftlichen Faktoren, die ein Burnout bewirken. Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen 25 Jahren enorm verändert. Allein die Hochtechnologie hat mittlerweile eine Halbwertszeit von vier Jahren. Es bleibt keine Zeit für Reflexion. Der moderne Mensch wird zunehmend ein einsamer: alleinlebend, ständig suchend, ständig einem hohen Stress-Level ausgesetzt. Dann das Ökonomie-Prinzip. Es sollte uns ernähren, aber was haben wir? Ein raubtierartiges Ökonomie-Prinzip mit wenigen Profiteuren und immer mehr Menschen, die grad so am Überleben sind. Wir definieren uns über Besitz. Das Haben ist das Wesentliche. Der moderne Mensch hat sehr viel und ist sehr wenig. Wir erleben eine Sinnleere wie noch nie. Wir können das System nur dadurch ändern, indem wir uns ändern. Hier kommt dann der therapeutische Ansatz zum Tragen, der aus drei Eckpunkten, Love-Work-Pray, besteht.

Ich nenne das jetzt einmal Ihre Glücksformel. Sind alle drei Faktoren gleichermaßen bedeutend?

Von der Wichtigkeit würde ich alle gleichsetzen. Wenn ich bei einem der drei besonders gut aufgestellt bin, kann ich Defizite in einem anderen Bereich verkraften. Bin ich etwa hinsichtlich Familie und Freunde gut eingebettet, gehe aber einer weniger sinnvollen Tätigkeit nach, halte ich es länger aus. Beim Faktor Arbeit (work) ist entscheidend, dass ich etwas Sinnerfüllendes, über den Aspekt des Geldverdienens hinaus mache. Solche Mitarbeiter werden nicht krank, wollen nicht weg. In diesem Bereich könnten Unternehmen hinsichtlich Burnout-Prophylaxe viel bewirken.

An welchen der drei Faktoren hapert es Ihrer Erfahrung nach am häufigsten?

In Prinzip an allen. Der reflexive Teil (pray) wurde früher von der Religion bedient. Woher komme ich, wozu bin ich da – es ist das größere Netz, das sich über mein Leben spannt. Auch dieser Faktor ist entscheidend. Hier läuft vieles über soziales Engagement: Ob ich leseschwachen Kindern helfe, mich für gestrauchelte Jugendliche einsetze oder eine Patenschaft eingehe, ist dabei egal. Nichts tut so gut, wie gebraucht zu werden. Durch diesen Ansatz werden viele langsamer, treffen Entscheidungen bewusster und nicht so dem Zeitgeist entsprechend. Es kann der Startschuss für einen persönlichen Umbau sein, und so kann auch wiederum das System verändert werden.

Was raten Sie Menschen, für die ihr Job nur notwendiges Übel ist, um ausschließlich Geld zu verdienen? Kündigen?

Nein, das würde ich niemandem raten. Er würde nur vom Regen in die Traufe kommen. Menschen, die sagen, sie halten ihren Job nicht aus, sollten in ein persönliches Coaching investieren. Man müsste der Frage nachgehen: Was hältst du dabei nicht aus und wofür bist du geschaffen, was ist deins. Mit diesem Wissen geht man schon ganz anders in Bewerbungen, und man sucht sich den Arbeitsplatz, der persönlich zu einem passt.

1993 haben Sie eine Krebsdiagnose bekommen mit der Aussicht, noch ein Jahr zu leben. Eine Fehldiagnose. Wie viel dieser Erfahrung ist in Ihr Buch eingeflossen?

Eigentlich nichts, aber es hat mich in der Form geprägt, dass ich kompromissloser geworden bin. Was ich als sinnvoll erlebe, dem gehe ich nach. Da traue ich mich auf Sicherheit und Kalkül zu verzichten. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, das Leben als großes Geschenk zu sehen.

Sie sind Psychotherapeutin, leiten ein Erziehungsberatungsinstitut und beraten Unternehmen, dazu sind Sie vierfache Mutter. Wie geht sich das alles aus?

Ich bin jemand, der sehr viel Veränderung im Leben braucht. Viele sagen, ich arbeite 80 Stunden in der Woche, aber ich habe nicht das Gefühl, in dem Sinn zu arbeiten. Außerdem habe ich das Privileg der freien Zeiteinteilung. Beispielsweise unser Gespräch jetzt. Ich habe mir diesen Vormittag nichts vorgenommen und habe nicht das Gefühl, dass ich arbeite, sondern dass ich – ja, dass ich lebe.

 

Zur Autorin

Martina Leibovici-Mühlberger: Die 54-jährige Wienerin ist ausgebildete praktische Ärztin, Gynäkologin, Psychotherapeutin, weiters als Unternehmens- und Erziehungsberaterin tätig. Die Buchautorin ist darüber hinaus Mutter von vier Kindern, das Letzte bekam sie im Alter von 47 Jahren.

„Die Burn-out-Lüge“ . Das Buch ist erschienen im Verlag edition a, 222 Seiten, 19,95 Euro.

Vortrag und Diskussion mit der Buchautorin finden am Donnerstag, 6. Februar, im Oö. Presseclub, Landeskulturzentrum Ursulinenhof statt (19 Uhr).