Besuch bei den Püppchen aus der Bronzezeit

09.Juli 2016

Im Valcamonica, dem Tal der Zeichen, finden sich die meisten der bekannten Felsbilder (Petroglyphen) der Welt. Bisher wurden in dem lombardischen Tal 1600 Felsenflächen entdeckt, auf denen sich Gravuren, die teilweise bis zum Ende der Steinzeit zurückführen, befinden. Die meisten davon in Capo di Ponte, wo sie in drei Archäologieparks präsentiert werden. Mehr als 50.000 Gravuren, die mit Steinen in den Fels gepeckt wurden, kennt die Archäologie. Nun gilt es dieses prähistorische Archiv zu erhalten. Dabei kommen der Universität Graz und der Fachhochschule St. Pölten große Verdienste zu. Mit Hilfe von 3D-Scans wurde die "Rock-Art" auf den Zehntelmillimeter genau digital festgehalten und für Ausstellungen und Museen aufbereitet. "Die moderne Technik hilft uns, die Komplexität der Rock-Art aufzulösen", sagt Archäologe Alberto Maretta. Die OÖN haben den Leiter des städtischen Archäologieparks Seradina-Bedonia in Capo di Ponte zum Interview getroffen.

 

Warum befinden sich ausgerechnet in diesem Tal so viele Felsbilder?

Alberto Maretta: Eine mögliche Antwort besteht in den von den Eiszeitgletschern glattgeschliffenen Felsen aus feinem Sandstein. Felsbilder gibt es an vielen Orten, aber nirgends so viele wie hier. Eine Erklärung könnte auch sein, dass hier in der Bronzezeit eine Tradition entstanden ist, die sich anderswo skulpturell – in Stelen oder Menhiren – ausgedrückt hat.

Wie lassen sich die Felsbilder geschichtlich einordnen?

Aus der Verwitterung, aus Vergleichen der Muster und aus den Bildern selbst. Es lassen sich Rückschlüsse aus den abgebildeten Waffen und Tieren ziehen oder auch aus Buchstaben etwa aus der Etruskerzeit. Die Bilder entwickeln sich. Am Ende der letzten Eiszeit sehen wir allein Tierabbildungen, in der Bronzezeit einfache Szenen und abstrakte Bilder, in der Eisenzeit entstanden erste Narrative; vom Pflügen, Jagen oder vom Zweikampf.

Lässt sich etwas über die Rockartisten sagen? Wer waren sie?

Das waren jedenfalls keine Hirten, denen fad war. Die Bilder stammen von einer kleinen Gruppe innerhalb der Population; Leute, die quasi das Lesen und Schreiben beherrschten. Sie tradierten diese Sprache über viele Jahrhunderte. Um die Bilder zu pecken, musste man in der Technik ein Experte sein.

Was erzählen die Bilder?

Das ist schwer zu interpretieren. Wir leben in einer Alphabetwelt. Diese Zeichen könnten sich wie eine Sprache verhalten oder wie eine Gesamtperformance. Viele Bilder sind verbunden mit anderen und erzählen eine Geschichte ähnlich einem Thread, eine komplexe Erzählung, in die auch die Landschaft eingebunden ist – ein offener Text, der voller Rätsel ist. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass das bloß Fotos aus der Vergangenheit sind.

Gab es rituelle, religiöse Gründe für die Felsbilder?

Wir stoßen dabei an die Grenzen gesicherter Interpretation. Waren die Bilder Teil eines Rituals? Sind sie Infopunkte oder Wegmarkierungen, sind sie Statusmeldungen? Manches spricht dafür, dass die Bilder Kontakt ermöglichen sollten zu den Göttern oder Ahnen – und dann findet man wieder Bilder, die so gar nicht in diese Erklärungen passen. Vielleicht dienten sie als heilige Stätten, die von Priestern aufgesucht wurden, um ein Dankeszeichen für die Ernte oder einen Jagderfolg oder ein gewonnenes Duell zu setzen. Es ist kurios: Wir fliegen zum Mars und verstehen nicht einmal unsere Vorfahren.

Inwieweit hilft moderne Technik, die Rätsel zu lösen?

Wir kooperieren mit vielen Universitäten, um Erklärungen zu finden. Mit der Grazer Uni haben wir 3D-Scans von den Bildern gemacht. Das eröffnet fantastische Forschungsmöglichkeiten. Die Fachhochschule St. Pölten schrieb Algorithmen, damit Computer menschliche Bearbeitungsspuren auf Stein lesen können, und erarbeitete Materialien für die Museumspädagogik – für die es den Weltkulturerbe-Preis gab.

Wie wollen Sie die Felsbilder erhalten?

Ein Weg wäre, sie wieder mit Erde zu bedecken, aber manches muss man öffentlich zeigen. Schließlich sind das Dokumente, ein Archiv, das in die Zeit vor der Schrift zurückreicht; gültig nicht nur hier im Tal, sondern etwa auch für die anderen Bewohner der Hallstattzeit. Vielleicht geht Valcamonica weit über das Tal hinaus und erzählt mehr über Europa, als man vermutet. Ich sehe es als ein EU-Archiv, das viel haltbarer ist als heutige Digital-Fotos.

 

Europa-Nostra-Award

Vor wenigen Wochen vergab der europäische Denkmalschutz-Verbund Europa Nostra den gleichnamigen Preis für das EU-Projekt „Pitoti“, das die prähistorischen Steinfiguren in der UNESCO-Weltkulturerbestätte Capo di Ponte im Valcamonica untersucht und mit moderner Medientechnik präsentiert. „Die Technik erleichtert Archäologen die Arbeit“, sagt Markus Seidl, Leiter des Instituts für Creative\Media/Technologies an der FH St. Pölten.