Asli Bayram: „Ich sehe das Leben als eine Reise“

Von Von Reinhold Gruber   06.November 2010

OÖN: Warum darf die „Reichspogromnacht“, die von 9. auf 10. November 1938 den Auftakt für den Holocaust bildete und deren Opfer in Wels gedacht wird, Ihrer Meinung nach nie in Vergessenheit geraten?

Bayram: Alles, was in den vorangegangenen Jahren bereits grausamer Alltag gewesen war, Verfolgung, Demütigung, KZ, Mord- und Raublust der Nazis, bekam in dieser entsetzlichen Nacht den dämonischen Segen eines Verbrecherregimes, durch bewusste Entfesselung kollektiven Hasses. Wir müssen an diese Finsternis erinnern, ohne Warum oder Wieso. Die Zeit ist kein Instrument des Vergessens. Die jungen Leute müssen begreifen, was da passiert ist.

OÖN: Was sollten wir aus den Ereignissen von damals lernen?

Bayram: Dass wir für den Generalzustand der Welt die Verantwortung haben und uns dieser nicht entziehen dürfen. Je eher sich diese Erkenntnis in den Köpfen festsetzt, desto besser. Wir dürfen Hass, Intoleranz, Ausgrenzung, Rassismus nicht zulassen.

OÖN: Haben wir Menschen daraus etwas gelernt?

Bayram: Wenn wir uns heute umschauen, scheint es, als ob die Welt mehr und mehr ohne Menschenliebe auszukommen versucht. Einhundert große Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg. Derzeit tobt in 30 Staaten Krieg. Ein Netz aus Gewalt und Gräuel. Eine traurige Bilanz. Und immer geht es um Religion, Territorien, Ressourcen. So gesehen müssen wir noch einiges lernen, zum Beispiel, dass Geben und Teilen besser ist als Wegnehmen.

OÖN: Muss man sich angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen und einer verstärkten Angst vor Überfremdung sowie einer Ausländerdiskussion in ganz Europa Sorgen machen, dass wir aus der Geschichte nichts gelernt haben?

Bayram: Der Rechtsruck in der Gesellschaft ist besorgniserregend. Die Angst frisst die Seele. Oder, anders gesagt, die Angstmacher fressen die Seelen. Mephistos überall, leider nicht auf der Theaterbühne sondern als reale rechte Populisten mit Gel im Haar und Designer-Schal. Da werden Zeichnungen an Haushalte geschickt, die suggerieren, dass Steine-Werfen auf Migrantenkinder okay sei. Entsetzlich! Eine Partei, die in Österreich regieren möchte, plakatiert Wörter wie Mut und Blut. Das ist kein harmloser Unfug. Vielleicht ist es vom Rechtspopulismus zum Rechtsradikalismus noch ein großer Schritt, aber wahrscheinlich ist es nur einer.

OÖN: Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass sich etwas verändern kann?

Bayram: Die Informationsgesellschaft kann ein Hoffnungsträger für positive Veränderung sein. Die meisten Vorurteile entstehen durch Unwissenheit und falsche Informationen. Wir müssen gewisse Prinzipien der Aufklärung reaktivieren. Jeder Mensch kann das tun, als freier Erzähler vor freien Zuhörern. Wir müssen verstehen und erkennen, dass es das sogenannte Fremde gar nicht gibt. Auch den Medien per se kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Wir müssen unser Wissen teilen, so dass es vereint und nicht trennt.

OÖN: Sie bezeichnen sich in Ihrem Buch als Grenzgängerin, weil sie als Deutsche türkischer Herkunft zwischen den Welten leben. Sind diese Welten Ihrer Meinung nach so weit auseinander, wie es oft den Anschein hat?

Bayram: Viele Menschen setzten sich selber Grenzen. Grenzen der Liebe, Grenzen der Barmherzigkeit, Grenzen des Wissens, Grenzen der Freude, Grenzen der Toleranz, Grenzen der Neugierde. Die Liste der Selbstbegrenzungen lässt sich weiter fortsetzen. Ich begrenze mich nicht in dem, was erkenntnisreicher, wahrhaftiger, klüger, menschlicher macht. Und, dass ich in mehreren Kulturen lebe, freiwillig und gerne, ist auch keine Selbstbegrenzung. Daher der Titel, Grenzgängerin. Alle Lebenswelten und Kulturen, die auf dem Willen zum Frieden aufgebaut sind, sind gleichberechtigt und in ihren Kernen ähnlich. Ob dann der Tee mit Zucker oder ohne getrunken wird, ist ein marginaler Unterschied.

OÖN: Sie haben in Ihrem noch jungen Leben sehr drastisch die Schattenseiten des Lebens kennen gelernt, haben gesehen, wohin blinder Ausländerhass führen kann. Ihr Vater wurde Opfer eines Rechtsextremisten, Sie selbst wurden als Kind dabei verletzt. Warum haben Sie dennoch ihre Zuversicht nicht verloren?

Bayram: Meine geliebte Familie war da, Mutter und Geschwister. Wir sind Hand in Hand durch die Zeiten gegangen. Auf Augenhöhe, wir haben alles geteilt, den Schmerz und die Freude. Das ist bis heute so. Wir haben Kraft und Liebe füreinander. Und wir hatten immer Ziele. Meine Geschwister sind Rechtsanwälte geworden, Geschäftsleute, ich Künstlerin.

OÖN: Sind Toleranz und Respekt die Schlüssel für ein friedvolleres Zusammenleben oder braucht es dafür Ihrer Meinung noch mehr?

Bayram: Es braucht auch das Bewusstsein, dass wir alle Mitbewohner dieser Erde sind. Es braucht das Bewusstsein für Gerechtigkeit. Und es braucht vor allem die Fähigkeit, lieben und Liebe annehmen zu können. Ich meine nicht nur die Liebe in Herzform, sondern auch die Wahrheitsliebe, die Liebe zur Natur und vieles mehr. Wir brauchen tagtäglich viele, viele Formen von großen und kleinen Liebesgeschichten. Je mehr Liebe, desto weniger Hass.

OÖN: Sie appellieren, an eigene Ziele zu glauben und sie zu verfolgen. In einer zunehmend egoistischeren Welt scheint das nur mit viel Ellbogentaktik zu gehen. Wie schwierig ist es, in der Verfolgung seiner Ziele nicht auf das Mensch-Sein zu vergessen?

Bayram: Warum soll es schwer sein, das Leben anständig und fair zu gestalten und dabei seine Ziele zu erreichen? Das ist nicht schwierig. Man muss es nur wollen. Das ist der springende Punkt. Vernunft und Intelligenz sind dafür bessere Werkzeuge als Ellbogen.

OÖN: Haben Sie niemals an der Menschlichkeit und der Liebe der Gesellschaft gezweifelt?

Bayram: Nicht an der Gesellschaft aber am System. Mein Vater wurde aus rassistischen Motiven ermordet. Vor Gericht gab es dann aber keine Gerechtigkeit. Ein System, das Ungerechtigkeit zulässt, ist zu bezweifeln.

OÖN: Wie viel Mut braucht es, für eine Meinung, eine Überzeugung einzustehen?

Bayram: Ich messe Mut nicht in Quantitäten. Entweder hat jemand Mut oder nicht.

OÖN: Erleichtert Ihnen die Tatsache, dass Sie Schauspielerin sind, dass man Ihnen zum Beispiel schneller zuhört?

Bayram: Ja. Ich wünsche mir aber, dass nicht die Schnelligkeit des Zuhörens zählt, sondern die Genauigkeit. Öffentliche Stimmenimitatoren oder Bauchredner auf allen Ebenen, die schnell Gehör finden, gibt es bereits genug.

OÖN: Sie werden demnächst die Hauptrolle in dem Film „Body Complete“ spielen, in dem die ethnischen Säuberungen im Bosnienkrieg im Blickpunkt stehen. Was war Ihr Beweggrund, in diesem Film über die politischen Verbrechen jüngster europäischer Geschichte mitzuwirken?

Bayram: In Bosnien wurden Zigtausende Menschen abgeschlachtet, vor den Augen der Weltgemeinschaft, nur weil sie Moslems waren. Eine knappe Flugstunde von hier entfernt. Mitten in Europa. Neben akribischer Untersuchung, Justiz, Polizei, neben lupenreiner Dokumentation, müssen Literatur, Theater und Film sich damit auseinandersetzen, jeweils mit ihren künstlerischen Mitteln.

OÖN: Kann politisches Erzählkino, als das sich „Body Complete“ versteht, die Gesellschaft verändern bzw. zumindest Diskussionsprozesse in Gang bringen?

Bayram: Es ist ein schonungsloser Film, für das Publikum und für die Schauspieler. Er geht ganz nahe an Wahrheiten und Tatsachen heran, zu denen im Kinosaal garantiert kein Popcorn passt. Ich bereite mich intensiv darauf vor. Im November drehen wir zuerst eine Dokumentation vor Ort, sprechen mit Überlebenden und Angehörigen, sind dabei, wenn Funde aus den Massengräbern untersucht werden. Diese Aufnahmen kommen dann auch teilweise im Kinofilm vor, der ab Frühjahr nächsten Jahres gedreht wird.

OÖN: Haben Sie für sich ein Lebensziel formuliert?

Bayram: Es kann im Leben nicht nur ein Ziel geben. Ich sehe das Leben als eine Reise. Meine Lebensreise wird viele Ziele haben, die ich jetzt nicht kennen kann und noch nicht kennen will. Nur, eines weiß ich genau, ich will immer wieder losgehen und als Mensch, der sich nichts vorzuwerfen hat, ankommen. Klingt ein wenig banal, ist aber so.

OÖN: Wie würde Ihre Traumvorstellung vom Leben auf der Erde aussehen?

Bayram: Dass wir die Armut abschaffen, denn die ist die Wurzel allen Übels. Es gibt wirklich genug für alle.

OÖN: Sind Sie ein glücklicher Mensch?

Bayram: Ja. :-)

Das Buch

„Man kann alles schaffen, wenn man wirklich will.“ Diese einfach anmutende Formel versucht Asli Bayram zu leben. Die Schauspielerin, die zwischen Kulturen und Lebensweisen pendelt, in Wien, London und Los Angeles lebt, 2005 Miss Deutschland war und sich vom Beauty-Business abgewendet hat, schildert in „Grenzgängerin“ ihr intensives Leben mit Licht und Schatten. Ab 19. November ist „Grenzgängerin“ im Buchhandel erhältlich.