Die Schrift nach Duden

Von Manfred Wolf   30.Juli 2011

Würde Konrad Duden heute die 25. Auflage seines Standardwerkes der deutschen Sprache, den Duden, aufschlagen, es würde ihm wohl die Sprache verschlagen. Zum einen hat sich die Anzahl der Stichwörter seit seinem Erstlingswerk aus dem Jahre 1880 verfünffacht – in der aktuellen 25. Auflage sind es mittlerweile 135.000 Stichwörter. Zum anderen hat sich die Sprache im Laufe der Jahrhunderte gewaltig verändert. Ein Beispiel gefällig? Kein Jugendlicher geht heute mehr auf Freite. Vielmehr geht er aus, um ein Mädchen „aufzureißen“. „Freite“ klingt also nicht nur wie ein Wort von „ehegestern“, es ist auch von vorgestern.

Der Dynamik der Sprache hat sich der Dudenverlag freilich angepasst. Ständig kommen neue Wörter in das mittlerweile 1216 Seiten dicke gelbe Buch. Bei Wörtern wie Abwrackprämie, Babyblues, Bioethikkommission, urcool, twittern, Nickname oder euroskeptisch würde Konrad Duden wohl selbst im Duden nachschlagen müssen, um deren Bedeutung zu erfahren – sie sind nur ein kleiner Auszug jener Wörter, die es in die aktuelle Ausgabe geschafft haben. Wenn in zwei, drei Jahren die 26. Auflage erscheint, wird das Wort „Energiewende“ erstmals im Duden aufscheinen.

Aber wer war Konrad Duden und wie kam es dazu, dass er zum Vater der deutschen Einheitssprache ernannt wurde? Die Antwort auf diese Fragen liefert Christian Stang aus Regensburg, der sich seit seiner Jugend mit der deutschen Sprache auseinandersetzt und dafür nicht nur selbst vom Dudenverlag immer wieder zu Rate gezogen wird, sondern Anfang Jänner die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland erhalten hat. Von Stang erschien erst vor wenigen Tagen die Broschüre „Konrad Duden und sein Wörterbuch – Wegbereiter der Einheitsschreibung“.

Darin schreibt er: „Nach der von Otto von Bismarck betriebenen Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 erkannte man mehr denn je die Notwendigkeit, die bis dahin vermeintlich ‚wild‘ gewachsene Rechtschreibung der deutschen Sprache verbindlich zu regeln. Die deutsche Sprache sollte reichsübergreifend einheitlich gelehrt werden können und die Verschriftung des Deutschen erleichtern.“

Von Preußen bis nach Österreich

Bis zur Gründung des Deutschen Reiches wurde nicht nur in den jeweiligen Schulen eine unterschiedliche Orthografie angewandt, sondern auch von Lehrer zu Lehrer. Ebenso im amtlichen Schriftverkehr.

Im Jahr 1876 fand in Berlin schließlich die „Erste Orthografische Konferenz“ statt. Einer der Teilnehmer war Konrad Duden, der seit seiner vier Jahre zuvor veröffentlichten Schrift „Die deutsche Rechtschreibung“ als „graue Eminenz in orthografischen Belangen angesehen wurde“, schreibt Stang. Zwar konnte man sich bei dieser Konferenz in manchen Punkten einigen, zu einem positiven Abschluss kam es allerdings nicht – auch, weil Bismarck sein Veto einlegte, da die Ergebnisse nicht in seinem Sinn waren.

„Dudens Orthografie war die praktikabelste“, sagt Peter Ernst, Professor am Institut für Germanistik in Wien. „Sie war nicht in allen Belangen logisch, aber nachvollziebar – aus einem einfachen Grund: Duden war ein Mann der Praxis, seine Orthografie war also dem Alltag in den Schulen entnommen.“ Wäre es nach den Wissenschaftern gegangen, hätte man zum Beispiel das Wort Lohn ohne stummes H geschrieben und es gäbe keine Großschreibung, generell wäre unsere Schrift aber komplexer.
Nach der gescheiterten Konferenz erschien 1879 in Österreich und – als erstes deutsches Bundesland – in Bayern ein Regelwerk zur deutschen Orthografie.

„Duden war in der Zwischenzeit aber nicht untätig. Wohl wissend, dass sich die orthografische Frage nur mithilfe des damals einfluss- und bevölkerungsreichsten deutschen Staates, Preußens, lösen lässt, erarbeitete er auf der Grundlage des preußischen Regelbuchs 1880 sein ‚Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache‘“, schreibt Stang weiter. Dieses Werk enthielt knapp 27.000 Stichwörter und fand nicht nur in den Schulen, sondern vor allem in den Druckereien rasche Verbreitung. Nicht einmal Bismarck, der sich gegen das preußische Regelbuch wehrte und dessen Anwendung verbot, konnte dessen Durchsetzung verhindern.

Tür und Tor statt Thür und Thor

Bei der „Zweiten Orthografischen Konferenz“, die im Juni 1901 ebenfalls in Berlin stattfand, wurde dann endlich eine Normierung der deutschen Orthografie beschlossen. Um die durch den Duden verbreitete Einheitsschreibung nicht in Gefahr zu bringen, wurden lediglich kleine Korrekturen vorgenommen – zum Beispiel wurde bei Wörten wie Tür und Tor das „Th“ durch ein „T“ ersetzt. Auch Österreich und die Schweiz billigten das neue Regelwerk, das somit ab dem Schuljahr 1902/03 im Schulunterricht und im behördlichen Schriftverkehr verbindlich eingeführt wurde.

Die Richtlinien aus dem Jahre 1901 galten bis zum 1. August 1998. An diesem Tag trat die zwei Jahre zuvor beschlossene Neuregelung der deutschen Rechtschreibung in Kraft – Tip wurde zu Tipp, daß zu dass, selbständig zu selbstständig ...
„Dass man seit dieser Reform manche Wörter heute so oder so schreiben kann, zeigt, dass es sich in weiten Teilen um eine Kompromisslösung handelt“, sagt Peter Ernst. „Außerdem gab es bei der jüngsten Reform wieder Bestrebungen, die Großschreibung abzuschaffen, doch der konservative Zweig war zu stark.“

Bedeutung der Einheit

Zurück zu Konrad Duden, dessen Sterbetag sich am Montag zum 100. Mal jährt. Seine Bedeutung für die deutsche Sprache ist unbestritten. Werner Scholze-Stubenrecht, Leiter der Dudenredaktion in Mannheim sagt: „Eine einheitliche Rechtschreibnorm ist unabdingbar für einen reibungslosen Schriftverkehr – wenn jeder so schreibt, wie er will, muss der Leser vielfach erst raten, was gemeint sein könnte. Abweichungen vom erwarteten Schriftbild verzögern die Erfassung eines Textes und lenken vom Inhalt ab.“ Auch Ernst hebt die Bedeutung Dudens hervor.

Was Konrad Duden allerdings sagen würde, wüsste er, wie anarchisch sich „sein“ Werk heute in Mails und SMS verselbstständigt hat, ist auch für Ernst schwer einzuschätzen. Er meint jedoch, dass bei der nächsten „Orthografischen Konferenz“ – wann auch immer diese sein mag – diese Frage bereits obsolet ist. „Auch ich schreibe im Mailverkehr klein“, sagt er. „Und die heutige Generation der Jugendlichen, die dann am Ruder sein wird, sowieso. Die Sprache ist eben dynamisch.“

Wie kommt ein Wort in den Duden?

... So lautet eine der am häufigsten gestellten Fragen an die Dudenredaktion. Die Antwort wollen wir keinesfalls schuldig bleiben:

Die Dudenredaktion ist ständig auf der Suche nach neuen Wörtern. Das wichtigste Verfahren dabei besteht darin, dass mithilfe von Computerprogrammen große Mengen an elektronischen Texten daraufhin „durchkämmt“ werden, ob in ihnen bislang unbekannte Wörter enthalten sind. Treten sie in einer gewissen Häufung und einer bestimmten Streuung über die Texte hinweg auf, handelt es sich um Neuaufnahmekandidaten für die Wörterbücher.

Die Textbasis bildet dabei das Dudenkorpus, das mittlerweile mehr als zwei Milliarden Wortformen zählt und sich aus einer Vielzahl aktueller Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Romane, Reden, Reparatur- und Bastelanleitungen usw. zusammensetzt.
Zusätzlich zur Recherche im Dudenkorpus sucht die Redaktion punktuell auch in anderen elektronischen Quellen (allen voran das Internet) nach neuen oder bislang noch nicht verzeichneten Wörtern.

Die Duden-Sprachberatung erhält täglich bis zu 200 Anfragen rund um die deutsche Sprache – zum Beispiel, wenn Wörter im Duden vermisst werden. Diese Anfragen werden, sofern sie häufiger auftreten, in einer Datenbank festgehalten. Hier finden sich momentan Begriffe wie Longsleeve, austitschen oder Pitstopp.

Dann muss das Wort, über dessen Aufnahme die Redakteurin oder der Redakteur zu entscheiden hat, in einer gewissen Häufigkeit auftreten, und zwar über einen längeren Zeitraum hinweg, am besten über mehrere Jahre.

Nicht immer sprechen Zahlen, Daten und Fakten jedoch eine klare Sprache. In diesen Fällen sind die Redakteurinnen und Redakteure auf den kollegialen Austausch untereinander angewiesen und natürlich auf ihre ganz individuelle Sprachkompetenz.