Gesperrte Todesstiege
Seit mehr als 60 Jahren begleitet mich diese berüchtigte Stiege schon durchs Leben. Mehrmals im Jahr bin ich sie an Sonntagen gegangen und habe auf ihren Stufen so manche Sorge und depressive Anwandlung abgeladen.
Dabei spürte ich immer eine spirituelle Verbindung mit den Menschen, die sich unter Zwang vor mehr als fünfundsiebzig Jahren diese Stiege hinaufgeschleppt haben und nichts abwerfen konnten. Als ich die Stiege vor drei Jahren wieder gehen wollte, auch um meine Kondition im fortgeschrittenen Alter zu prüfen, war sie hermetisch abgeriegelt. In all den Jahren, in denen ich die Stiege gegangen bin, ist mir kein einziger schwerer Unfall zu Ohren gekommen. Voriges Jahr war wieder ein illegaler Zugang möglich und ich habe die Stiege mit schlechtem Gewissen und mit viel Mühe bezwungen. Am nächsten Tag hatte ich einen ordentlichen Muskelkater. Ich muss wohl zur Kenntnis nehmen, dass die Todesstiege – ich bin immerhin im 78. Lebensjahr – für mich Geschichte ist. Für mich ist unbegreiflich, warum die Stiege gesperrt ist. Es macht mich traurig, wenn heute Schreibtisch-Experten entscheiden, wo früher Hausverstand und Eigenverantwortung gefragt waren.
Franz Seyer, Gusen