Lade Inhalte...
  • NEWSLETTER
  • ABO / EPAPER
  • Lade Login-Box ...
    Anmeldung
    Bitte E-Mail-Adresse eingeben
    Bitte geben Sie Ihre E-Mail-Adresse oder Ihren nachrichten.at Benutzernamen ein.

Vielfalt im Wald nur mit toten Bäumen

Von Ulrike Rubasch   19.Juni 2021

Mit den Fingern bricht Erich Weigand ein Stück Rinde aus einem halb stehenden, abgebrochenen Baum in einem Lawinenstrich an der Nordseite des Sengsengebirges. Orangefarbenes, bröseliges Holz rieselt zu Boden. "Hier haben wir 2019 den Rothalsigen Düsterkäfer gefunden." Ein Sensationsfund, denn der Phryganophilus ruficollis ist nicht nur der erste Fund in Oberösterreich seit 115 Jahren, sondern stellt zugleich die Entdeckung der größten und stabilsten Population dieser vom Aussterben bedrohten Käferart in ganz Mitteleuropa dar.

Viele Stämme liegen kreuz und quer, hier hat 2009 eine Lawine bis ins Tal sämtliche Bäume geknickt. Weil im Nationalpark Kalkalpen die Natur walten kann und der Mensch kaum eingreift, blieb das Holz liegen und vermoderte. Genau das brauchen unzählige Insekten sowie Tier-, Pilz- und Flechtenarten.

In einem typischen Wirtschaftswald ist das anders. Aus Angst vor Unordnung, Schädlingen oder Haftungsansprüchen von Waldbesuchern wird auch heute in einem bewirtschafteten Wald kaum Totholz stehen oder liegen gelassen. Dabei wurde Totholz bereits 2002 von 40 europäischen Staaten offiziell als Indikator für die biologische Vielfalt anerkannt. Doch häufig stehen ökonomische Interessen im Vordergrund. Würde jedoch die Ökologie zumindest mit Totholzinseln im Wirtschaftswald mehr berücksichtigt, würde das für die wirtschaftliche Nutzung des Waldes langfristig von Vorteil sein, ist Weigand sicher. Der Borkenkäfer hätte nie solche Schäden anrichten können, wäre der Wald gesund und vielfältig gewesen.

Doch warum braucht ein gesunder Wald das totes Holz? Es dient den Arten auf vielfältige Weise: Als Nahrungsquelle für Insekten, als Ort für die Jungenaufzucht etwa für höhlenbrütende Vögel, als Versteck für kleine Säugetiere, fürs Sonnenbad von Eidechsen oder als Brücke für allerlei Getier zum Überqueren von Bachläufen.

Vielfalt im Wald nur mit toten Bäumen
Der Nationalpark-Biologe Erich Weigand zeigt auf die Lebensräume, die durch Totholz im Bach erst entstehen.

Hälfte der Käfer braucht Totholz

570 der im Nationalpark nachgewiesenen 1324 (!) Käferarten gelten als obligate Totholzbewohner, also fast die Hälfte. Diese Arten sind zumindest in einer Phase ihres Lebens auf totes Holz angewiesen. Gibt es dieses nicht in ausreichender Menge und Qualität, kann sich das Tier nicht fortpflanzen. "Totholz ist also nicht tot. Das ist eine sehr unglückliche Bezeichnung", philosophiert der Biologe Weigand und bremst abrupt den Wagen, der uns in den hinteren Teil des Bodinggrabens bringen soll: Ein drei Zentimeter langer, schwarzer Laufkäfer will vor dem Fahrzeug die Schotterstraße queren.

Der Nationalpark-Mitarbeiter steigt aus und erzählt, dass auch diese Käfer wie Eidechsen und Schnecken das Totholz als Versteck und zur Überwinterung brauchen. Für das Große Mausohr, eine geschützte Riesenfledermausart, stehen diese übel riechenden Insekten auf dem Speiseplan. Eines von vielen Beispielen, wie eine Art indirekt vom Totholz abhängt. Oder: Der ebenfalls auf Totholz angewiesene Ameisenbuntkäfer. Er und seine Larven ernähren sich von Borkenkäfern, er wäre also ein natürlicher und effizienter Gegenspieler des Fichten-Borkenkäfers.

Die Diskussion, wie viel Totholz in den Wäldern sein soll, ist alt. Doch die Wissenschaft hat sich auf 30 bis 40 Prozent der Holzmenge festgelegt, die an Totholz notwendig ist, um die natürlichen Prozesse im Wald ablaufen zu lassen. Das ist für einen Nutzwald zu hoch, in Europas Wirtschaftswäldern liegt er unter fünf Prozent, im Alpenraum etwas höher. Doch schon mit weniger Totholz wird viel bewirkt.

Der Dreizehenspecht ist etwa schon mit 15 Prozent Totholzanteil gut versorgt. Dieser Waldbewohner gilt als Indikator für eine hohe biologische Vielfalt speziell für Waldvögel. Er ernährt sich von Insekten in absterbenden und toten Bäumen und ist charakteristisch für naturnahe Fichtenwälder in den Alpen. Er gilt als natürlicher Borkenkäferantagonist, weil er pro Tag an die 2000 Borkenkäferlarven verzehrt. Übers ganze Jahr kommt er dabei auf 20 Mal so viele Insekten wie eine gebräuchliche Borkenkäferfalle fängt.

Doch die Menge allein ist nur die halbe Miete. Es geht vor allem um die Qualität des Totholzes. Damit meint Weigand, ob es dicke Stämme sind, liegend oder stehend, Laub- oder Nadelholz, in tiefen oder hohen Lagen, besonnt oder im Schatten. Weiters ist die Dynamik des Habitats entscheidend für die ökologische Vielfalt. Darunter versteht man die Veränderung eines Waldes durch Windwurf, Lawinen, Steinschlag, Krankheiten oder durch menschliche Eingriffe.

Oft müssen viele Parameter perfekt zusammenspielen, damit eine Art überleben kann. So brauchen viele Käferarten ganz bestimmte Pilze, die wiederum etwa an Mikrostandorte gebunden sind, wo etwa das Altholz eine bestimmte Feuchte aufweist. "Es ist eine Perfektion in der Spezialisierung auf kleinste Habitate", wie auch beim Rothalsigen Düsterkäfer, einer Urwaldreliktart der Kategorie 1. Dieses Insekt braucht Stämme, die wie beim Mikado übereinanderliegen.

Wir stehen am Bach, über den größere Stämme liegen, an denen sich Äste und Schwemmgut gesammelt haben und kleine Becken bilden. Weigand holt einen Stein aus dem Wasser und betrachtet die Rückseite, auf der es von eigenartigen Mini-Tierchen wurlt. "Auf einem Quadratmeter finden wir hier, wo natürliche Verhältnisse mit entsprechend viel Totholz vorliegen, rund 20.000 Individuen – und sehr viele Arten."

Vielfalt im Wald nur mit toten Bäumen
Vielfältige Vegetation auf einem Totholzstamm im Lawinenstrich: Moose und sogar Walderdbeeren gedeihen hier.

"Herrliche Dreiecksbeziehung"

Wir wandern weiter hinauf Richtung Feichtauer Seen. Immer wieder bleiben wir an Totholzstämmen stehen. "Es ist eine herrliche Dreiecksbeziehung zwischen Totholz, Pilzen und im Holz lebenden Insekten", so der Totholz- und Schmetterlingsspezialist. Alle Urwaldkäfer (siehe unten) nehmen Pilze bei der Eiablage in die Larvengänge in den toten Baum mit. Die Pilze wachsen im Holz und deren Sporen wiederum dienen den Käferlarven als Nahrung.

Immer wieder verfängt sich der Blick am Farbenspiel der Baumschwämme, die viele tote Bäume besiedeln. Der Weißrückenspecht liebt den Zunderschwamm, weil er ein perfektes "Regendach" über dem Eingang seiner Nisthöhle bildet. Das Schwamm-Dach schützt auch noch die Nachnutzer seiner geräumigen Höhlen vor dem Nass: Fledermäuse, Schmetterlinge, Vögel, Käfer und andere Kleintiere.

Wir passieren eine Reihe junger Fichten, die wie aufgefädelt dicht nebeneinander stehen. Erst bei genauem Hinsehen erkennt man den vermodernden Baum, in den sie ihre Wurzeln geschlagen haben: Kadaververjüngung.

Zu jedem Stück Totholz gäbe es unzählige Dinge zu erzählen, jetzt sind die Bohrlöcher in einem stehenden, entrindeten Baum dran. Ganz kleine und bis zu einem Zentimeter große sind zu erkennen. Ein kreisrundes Loch dürfte von der Riesenholzwespe oder dem Schneiderbock gebohrt worden sein. Ein halbmondförmiges vom Peltis grossa, dem Großen Flachkäfer, einer Urwaldreliktart.

Vielfalt im Wald nur mit toten Bäumen
Wurzelstöcke wie hier im Bodinggraben südlich von Molln bieten samt Erd- und Steinresten Lebensraum für Neues: Hier wächst eine Fichte direkt auf dem Altholz. Auch Moose und Insekten lieben solche Mini-Habitate.

Absolut einzigartig

Was begeistert eigentlich einen Biologen an der Käfer- und Schmetterlingssuche so sehr? Weigand: "Der Nationalpark-Verwaltung gehört kein Quadratmeter Fläche, es ist alles nur auf Zeit gepachtet und somit nicht langfristig gesichert. Der Nationalpark kann also leicht kleiner werden – und dies droht bereits." Wenn aber Arten mit überregionaler und sogar internationaler Bedeutung bestätigt sind, dann liegen schwergewichtige Fakten auf. "Dieser Umstand treibt mich an. Ich war besonders in den letzten zehn Jahren glücklicherweise erfolgreich." Mit einer aktuellen Studie zu den Käfer-Urwaldreliktarten liege nun "ein absolutes Alleinstellungsmerkmal vor", wodurch der "Nationalpark wohl nicht mehr wegzudenken ist."

Vielfalt im Wald nur mit toten Bäumen
Baumschwämme wie hier der Schuppige Porling siedeln sich gerne auf Altbäumen an, auf der Unterseite der Schwämme wimmelt es häufig von Insekten.

Goldener Scheckenfalter: Wiederansiedelung gefährdet

Dem Edelfalter Euphydryas aurini mit einer Flügelspannweite von knapp vier Zentimetern setzt die Intensivierung der Landwirtschaft der vergangenen Jahrzehnte stark zu. Er benötigt nährstoffarme Offenlandflächen, seine Raupen leben nur auf einer einzigen Pflanzenart. Für sein Vorkommen sind eigens Schutzgebiete einzurichten. In Österreich steht er auf der Roten Liste der gefährdeten Arten, seit 1985 wurde er im Nationalparkgebiet nicht mehr nachgewiesen.

Experten versuchten, den Goldenen Scheckenfalter im Nationalpark Kalkalpen zwischen Reichraming, Windischgarsten und Molln wieder sesshaft zu machen. „Und es dürfte gelungen sein!“, freute sich der Biologe Erich Weigand vergangene Woche. Die Biotopschutzzäune als Management haben sichtlich funktioniert – er habe mehr als 50 Falter gesichtet, der Bestand dürfte um ein Mehrfaches höher liegen. „Ein erfüllendes Gefühl, zu wissen, diese Falter würden ohne unser Engagement höchstens mit einigen wenigen Individuen oder sogar gar nicht fliegen“, sagt er. Dieser Erfolg sei jedoch akut bedroht: Der Vertrag mit dem Nationalpark zu diesem Biotop auf einer Almweide läuft Ende Juni aus, und mit dem neuen Besitzer der Alm sei noch kein Übereinkommen in Sicht. Zudem wurde diese Fläche bereits „ohne Rückfrage“ mit schweren Rindern bestückt, „eine für den Scheckenfalter nun akute neue Bedrohung.“

Vielfalt im Wald nur mit toten Bäumen
Borkenkäfer, Schneedruck und Wind bringen Dynamik in die Lebensräume. Wenn das Holz wie im Nationalpark liegen bleiben darf, profitiert die Artenvielfalt.
copyright  2024
20. April 2024