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Wo man der Natur eine Chance gibt

Von Gary Sperrer, 18. September 2021, 00:04 Uhr
Wo man der Natur eine Chance gibt
Einer der schönsten Seen der Ostschweiz ist der Lai da Rims in 2396 Metern Höhe. Bild: Spinnler

Als eine Gruppe weitblickender Ostschweizer am 1. August 1914 den Schweizerischen Nationalpark gründete – den ersten der Alpen –, wollte man der Natur die Möglichkeit bieten, sich unberührt neu zu entfalten. Das Experiment glückte, wie man heute sieht.

Um zu sehen, was passiert, wenn man nichts tut – im Sinne von: nicht in die natürlichen Abläufe einer Region einzugreifen –, wurde vor genau 107 Jahren im Engadin, dem südöstlichsten Winkel der Eidgenossenschaft, der Schweizerische Nationalpark gegründet. Über vier Gemeinden verteilt, ist dieser 170 Quadratkilometer große, im Kanton Graubünden gelegene Nationalpark der älteste im Alpenraum und bis dato der einzige in der Schweiz. Naturschutz, Forschung und Information sind die Ziele, wie Hans Lozza, Leiter der Kommunikationsabteilung des Parks, sagt.

Die langjährige Forschungsarbeit in einer solch naturbelassenen Gegend machte sich insofern bezahlt, als man heute Vergleiche zur Situation vor fast elf Jahrzehnten anstellen kann. Vieles habe sich verändert, so Lozza. So seien bestimmte Tierarten aufgrund des klimawandelbedingten Temperaturanstiegs in viel höhere Lagen vorgedrungen als früher. Auf einem 3400 Meter hohen Berggipfel in der Umgebung habe es 1914 nur eine einzige Pflanzenart gegeben, heute seien es 14.

Wie es der Nationalparkleitung mit ihrem Sitz in Zernez gelingt, nahezu radikal anmutenden Naturschutz und Tourismus unter einen Hut zu bringen, ist äußerst bemerkenswert, wie auch Lozza betont: "Alle sprechen von Ökotourismus – ich denke, wir machen das." Besucher sind im Schweizerischen Nationalpark willkommen, denn nicht ohne Stolz präsentiert man den Gästen das gelungene Experiment einer weitestgehend sich selbst überlassenen Natur. So werden keine Bäume gefällt, das übernehmen Witterung, Wind und die Zeit. Liegen gebliebene Stämme werden nicht angerührt, es gibt keine wie immer geartete land- oder forstwirtschaftliche Nutzung und auch keine Bejagung des Wildes (Hirsche, Gämsen, Steinböcke, Murmeltiere etc.). Die hier vorhandenen Wege sind markiert und können nicht verfehlt werden, ein Abweichen davon – und wenn auch nur um ein paar Zentimeter – hat einen freundlichen, aber bestimmten Korrekturruf zur Folge. Künstliche Fortbewegungsmittel und Campen sind verboten, auch Hunde dürfen nicht in den Nationalpark mitgenommen werden. Beeren, Blumen oder Schwammerl pflücken? Erwischen lassen sollte man sich dabei tunlichst nicht. Alle diese Verstöße werden empfindlich bestraft. Zur Überwachung der strengen Regeln, die an neuralgischen Stellen ausgehängt sind, gibt es Parkwächter.

Wo man der Natur eine Chance gibt
Selten und selten schön: ein Edelweiß in „freier Wildbahn“ Bild: gary

"Es ist ein Wander-Nationalpark", sagt Lozza, "und nicht ein Drive-thru." Doch heute wäre es nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, eine derartige Einrichtung zu schaffen: "Die Summe der Neins würde überwiegen", ist Lozza überzeugt. So gesehen hätten damals jene Männer, die sich für die Gründung des Parks stark machten, Unglaubliches geschafft. "Die haben wirklich die Gunst der Stunde genutzt, den richtigen Moment erwischt. Damals gab es keine grüne Partei, Ökologie war nicht wirklich ein Thema dieser Leute. Viele waren arm. Und zu jener Zeit waren die Wälder abgeholzt." Das Holz sei an die Saline in Hall/Tirol verkauft worden. Als alles kahl geschlagen war, seien die Holzfäller immer weiter in die Alpen vorgedrungen und auch nach Zernez gekommen. "Das Holz war weg", berichtet Lozza, "die Hirsche und die Steinböcke waren ausgerottet, nur Gämsen gab es noch." Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sei eben eine schwierige Zeit gewesen.

Ein Schutzgebiet auf "ewige Zeiten"

Unterdessen begann sich in der Ostschweiz der Tourismus zu entwickeln. Aus dem Umfeld der Naturforschenden Gesellschaft in Basel fanden sich einige Protagonisten, die schließlich das Projekt, "ein Stück Schweiz für ewige Zeiten vor Nutzungen zu schützen", umsetzen konnten.

Insgesamt 21 verschiedene Wanderwege, vom kurzen, einfachen bis hin zu doch etwas herausfordernden Touren, gibt es im Nationalpark – einer schöner als der andere. Doch wie erwähnt: Die Regeln sind streng, und sie gelten auch für alpinistisch angehauchte Besucher, die vielleicht den einen oder anderen lohnenden Gipfel ins Auge gefasst haben. Mir einer Ausnahme (hier führt der markierte Weg direkt über den höchsten Punkt) ist die Besteigung der Berge verboten. Die Natur soll eben ihre Chance haben, ohne menschliche Einmischung beziehungsweise Bewanderung zurückzukehren. Schön langsam gelingt das auch. Bis zum Urzustand dürfte es allerdings noch einige hundert Jahre dauern, wenn man großzügig schätzt.

Wo man der Natur eine Chance gibt
Wandelndes Lexikon: Nationalpark-Mitarbeiterin Andrea Millhäusler macht die Tour zum spannenden Erlebnis. Bild: gary

Keine Regel ohne Ausnahme: In zwei Fällen griff man der Natur ein wenig unter die Arme, um zwei einst hier heimische, aber später ausgerottete Tierarten wieder anzusiedeln, nämlich die Steinböcke, die in atemberaubenden Nacht-und-Nebel-Aktionen aus dem Bestand des italienischen Königs gestohlen und ins Engadin geschmuggelt wurden, sowie die Bartgeier. Heute gibt es stabile Populationen, und mit etwas Glück können Besucher diese prächtigen Tiere im Nationalpark erspähen. Vor allem die Murmeltiere zeigen keine besonderen Ängste vor den Wanderern. Die Nager bekamen im Laufe der Jahrzehnte mit, dass hier praktisch niemand in ihr Habitat eindringt, sprich: vom Weg abkommt. Hans Lozza bringt es auf den Punkt: "Es geht hier nicht darum, dass wir Polizisten spielen wollen. Wir sind eingeladen zu beobachten, was hier passiert. Aber wir sollen uns nicht einmischen."

Interessant am Schweizerischen Nationalpark ist, dass es hier nicht wie in anderen derartigen Einrichtungen eine Außen-, Kern- und Wildniszone gibt, sondern dass er ausschließlich aus letzterer besteht. Aus Wäldern sollen wieder Urwälder werden. Des Menschen Leben ist allerdings zu kurz, um diese Wandlung lückenlos beobachten zu können. Umso wertvoller sieht Lozza die langfristigen Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Arbeit: "Wir haben mittlerweile einen gigantischen Schatz an Informationen und Forschungsresultaten."

Von der Natur ins Kloster

Über den 2149 Meter hohen und von vielen Radfahrern frequentierten Ofenpass geht es von Zernez mit dem Linienbus nach Val Müstair und damit vom Schweizerischen Nationalpark in den Naturpark Biosfera. Hier sind auch die Regeln beim Wandern und Bergsteigen nicht mehr ganz so strikt. Doch auch in Val Müstair ist von Massentourismus keine Spur, es geht den Leuten um das Ursprüngliche, um Qualität vor Quantität. "Die Natur ist unser Kapital", sagt Naturpark-Biosfera-Geschäftsführer David Spinnler. "Wenn wir damit gut umgehen, dann haben wir auch genügend Leute. Wir brauchen nicht 100.000 Besucher – ja nicht! Wir brauchen nur so viele Leute, dass die Betriebe, die es hier gibt, gut laufen. Wir brauchen auch nicht 20 neue Betriebe."

Wo man der Natur eine Chance gibt
Wanderer im naturbelassenen Schweizerischen Nationalpark. Bild: gary

An der Naturparkgrenze befindet sich der östlichste Punkt der Schweiz, der 2763 Meter hohe Piz Chavalatsch. Von hier ist es auch nicht mehr weit nach Nauders in Nordtirol oder ins Südtiroler Meran. Ganz in der Nähe befindet sich zudem der 2501 Meter hohe Umbrailpass, der höchste Straßenübergang der Schweiz, von dem aus der malerische Gebirgssee Lai da Rims erwandert werden kann. Und auch das berühmte Stilfser Joch auf Südtiroler Gebiet ist in Schlagdistanz.

Fazit: Wer Menschenmassen scheut, gerne in unberührter Natur unterwegs ist und ein gelungenes Experiment einen Zeitalter-Wimpernschlag lang beim Weitergelingen erleben möchte, ist hier richtig.

Tipps

Ein sehr guter Platz für eine Nächtigung in Zernez, dem am besten mit der Rhätischen Bahn bequem erreichbaren Ausgangspunkt für Wanderungen im Schweizerischen Nationalpark, ist das Hotel Baer & Post (baer-post.ch).

In Val Müstair sei das Hotel Helvetia (helvetia-hotel.ch) wärmstens empfohlen.

Val Müstair (zu Deutsch: Münstertal) ist Standort eines der Legende nach von Kaiser Karl dem Großen gegründeten Klosters. Der Besuch ist wie eine Zeitreise. Tourismusverband und hiesige Gastronomiebetriebe laden des Weiteren zu einer Chatscha Culinarica, einer kulinarischen Schatzsuche, ein. Die Wanderung dauert vier bis sechs Stunden, inkludiert sind lokale Schmankerl.

Käsefreunde kommen in der Chascharia, der Käserei von Val Müstair, auf ihre Rechnung. Was grundsätzlich im Engadin nicht schadet: ein bisschen Rätoromanisch lernen …

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Autor
Gary Sperrer
Lokalredakteur Salzkammergut
Gary Sperrer
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