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In Pilsen ist viel Loos

Von Johannes Jetschgo   21.November 2020

Natürlich ist das "Pilsner Urquell", zu dem das prunkvolle Brauereiportal gegenüber dem Hotel "vienna house hotels" einlädt, die populärste Attraktion der Stadt. Aber Pilsen kann mehr. Die Stadt bietet ein Tor zur Moderne des 20. Jahrhunderts. Das verdankt sich dem wirtschaftlichen Aufstieg. Mit dem größten Rüstungskonzern der Donaumonarchie, den Skoda-Werken, entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine erfolgreiche Industriemetropole, ein Umfeld, das Wohlstand und bürgerlichen Ehrgeiz nährte.

An der heutigen Klatovska-Straße im Südwesten entstehen Zinshäuser der Gründerzeit und Stadtvillen. Geschäftsleute, die hier Wohnungen einrichten, werden zu Kunden von Adolf Loos, noch bevor dieser 1910 sein berühmtes "wimpernloses" Haus am Michaelerplatz in Wien errichtet. Pilsen besitzt neben Wien die meisten Loos-Objekte, 13 Wohnungen sind in der postkommunistischen Zeit restauriert und acht in einer attraktiven, mit kundiger Führung begleiteten Touristenroute zusammengefasst worden.

In Pilsen ist viel Loos
Adolf Loos

Die Erinnerung an Adolf Loos ist überschattet von seiner Verurteilung in einem Pädophilie-Prozess, dessen Protokolle erst vor fünf Jahren entdeckt wurden. Dass dieses dunkle Kapitel zu seinen Lebzeiten verharmlost wurde, wirft ein Licht auf den verantwortungslosen Umgang intellektueller Kreise mit dem "Fall Loos". Die Bedeutung der Loos’schen Projekte bleibt dessen ungeachtet bestehen.

Am 10. Dezember 1870 in Brünn geboren, verlässt Loos in seiner frühen Jugend den elterlichen Steinmetzbetrieb, macht sich einen Namen als störrischer Schüler, wird letztlich von seiner Mutter entmündigt, als er sich zu Verwandten in die USA absetzt. Diese drei Jahre ab 1893 werden freilich lebens- und werkbestimmend für ihn. Er versteht sich als ein Reformer, der sich mit Ernährung, Kleidung und Wohnen gleichermaßen beschäftigt und der seine Maximen gern apodiktisch formuliert. Er polemisiert gegen die Wiener Werkstätten, gegen seinen einstigen Mitschüler Josef Hoffmann. Überhaupt erscheint der amerikanophile Selfmademan umso widerständiger, je mehr ihm die in akademischen Bastionen in Wien verschanzten Kunst-Eliten ihre Anerkennung versagen.

Loos beginnt als Essayist. Mit einer Artikelserie in der "Neuen Freien Presse" zu Dingen des täglichen Lebens kommt er groß heraus. Geschäftslokale und Wohnungen einzurichten und bald darauf Führungen durch diese Wohnungen anzubieten, ist für ihn der konsequente zweite Schritt. Die Leser seiner Presseartikel sind die ersten Privatkunden. Der Pilsner Unternehmer Otto Beck gehört dazu. Mit seinem Cousin Wilhelm Hirsch ist er Geschäftsführer einer Drahtgitterfabrik. Anders als seine Eltern will er nicht mehr auf dem Firmengelände, sondern an repräsentativer Adresse wohnen: in der Klatovska 12, in unmittelbarer Nähe zur Industriellenfamilie Skoda.

Wilhelm Hirsch wiederum ist verschwägert mit Karl Kraus, der neben Peter Altenberg und Arnold Schönberg zu den engsten Freunden von Adolf Loos zählt. Zu Jahresbeginn 1907 kommt Adolf Loos nach Pilsen. Er wird rasch bekannt für die Schnelligkeit seiner Entwürfe und die Fähigkeit, Räume zu ordnen. Alle Loos-Wohnungen sind im Umkreis des weitläufigen, von Ziegelmauern umfassten einstigen Industrieareals von Skoda angesiedelt. Die Moderne in Pilsen beginnt hinter den Gründerzeitfassaden der Klatovska- oder der Bendova-Straße.

In Pilsen ist viel Loos
Brummel-Haus: kühle Modernität...
In Pilsen ist viel Loos
... und pompöse Renaissance unter einem Dach

Adolf Loos’ wohl populärster Essay-Titel "Ornament und Verbrechen" (1908) erscheint zunächst nur in Frankreich, wo Loos zum Vorbild von Le Corbusier wird. Nicht das Ornament an sich verwirft er, sondern das "durch Arbeitsteilung willkürlich auf dem Zeichentisch entworfene". Karl Kraus assistiert ihm umgehend, indem er "die Verschweinung des praktischen Lebens durch das Ornament" geißelt und das Ornament mit der "Phrase" im Sprachgebrauch gleichsetzt. In Wien legt sich Loos mit dem Kultur-Establishment an, nimmt den von der Kritik als "Oberwildling" titulierten Oskar Kokoschka unter seine Fittiche und setzt sich zwei Jahre später, 1910, für die von ihm bewusst schmucklos gestaltete Hausfassade am Michaelerplatz einer kulturpolitischen Schlammschlacht aus.

56 Wohnungseinrichtungen von Adolf Loos sind bekannt. Ihnen gemeinsam ist gediegene Materialauswahl und das Bekenntnis zur Individualität des Auftraggebers. Er unterstellt den Verfechtern des "Gesamtkunstwerks", sie wollten nur ihre eigene Eitelkeit befriedigen, beschreibt in einer Satire einen vermögenden Bauherrn, dem sein Architekt diktiert, wie er sich einzurichten habe und persönliche Erinnerungsstücke und Liebhabereien zugunsten des durchgestylten Ganzen verbietet. Loos appelliert: "Wir wollen wieder Herren in unseren eigenen vier Wänden sein."

Zweites Honorar für eine Wohnung

Die Langlebigkeit seiner Einrichtungen zeigt sich anschaulich, wenn Kunden ihn Jahrzehnte nach dem ersten Auftrag ersuchen, ihre Loos-Wohnung zu übersiedeln oder ihm ein zweites Honorar überweisen, weil sie sich, so die überlieferte Begründung, durch die Qualität der Einrichtung Geld erspart hätten.

Loos war schon vor dem Ersten Weltkrieg in Pilsen tätig, aber auch später, ab 1927. Nach 1918, vielleicht eine Reaktion auf die Widerstände in Wien, hatte er die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft angenommen. Seine Pilsner Projekte brachten ihm auch den Auftrag ein, der sein berühmtes Spätwerk werden sollte: die "Villa Müller" in Prag.

Einer seiner Pilsner Freunde und Kunden der ersten Stunde, Otto Beck, wird schließlich – freilich gegen seinen Willen – Schwiegervater von Adolf Loos. Seine Tochter Claire heiratet 1929 den um 35 Jahre älteren Loos. Als seine dritte Ehefrau publiziert sie später ihre Erinnerungen unter dem Titel "Adolf Loos privat". Darin findet sich auch die Episode eines Kuraufenthalts in Bad Hall, bei dem der Meister Stahlrohrmöbel einer Firma aus Scharnstein für sich entdeckt.

Vorliebe für den Kamin

Seine Handschrift ist an allen von ihm entworfenen Wohnungen ablesbar, er sprach vom "Raumplan": die – sehr englische – Vorliebe für den Kamin und die sichtbaren Holzbalken der Decke, die Eckbank und die Nische, die Intimität vermitteln, die freie Mitte, dezentrale Lichtquellen und raffinierte Einbaumöbel. Loos war einer der ersten Innenarchitekten, die Einbaumöbel verwendeten und, erzählt Margita Barnasova bei der Führung durch die Pilsner Loos-Kulissen, er, der Vielreisende, habe sich durch die Eisenbahncoupés inspirieren lassen. Vor allem ist Loos ein Pionier des modernen Badezimmers im Fin de Siècle, auch das importiert er aus der angelsächsischen Welt. "Der plumber", schreibt er, "ist der Quartiermacher der Kultur. Der Gedanke, dass es am Ende des 19. Jahrhunderts ein Land von Millionen gibt, dessen Einwohner nicht alle täglich baden können, erscheint den Amerikanern ungeheuerlich …"

Loos wird weiterempfohlen, auch in Pilsen, etwa als der Kinderarzt Dr. Vogl in die vormalige Wohnung der Familie Beck in der Klatovska 12 einzieht. Und gleich zwei Straßen weiter, in der Bendova 10, gestaltet er 1930 die Wohnung für den Chemiker Wilhelm Kraus und dessen Frau Gertrude mit seinen klassischen Elementen: geöffnete Räume, Symmetrie und kreative Einbaulösungen. Diese Gediegenheit und Funktionalität sicherte auch das Überdauern vieler seiner Werke in der Stadt, zumal in etlichen Wohnungen nach 1945 Amtsräume der kommunistischen Administration untergebracht wurden. Das Überleben der einst ansässigen Familien allerdings blieb zynischer Zufall. Die Besichtigung der Loos-Wohnungen ist eine Kultur-Exkursion, aber auch ein Erlebnis dramatischer Zeitgeschichte und eine Begegnung mit dem Schicksal der Bewohner. Fast alle gehörten dem begüterten jüdisch-deutschsprachigen Bürgertum Pilsens an. Einige der Häuser liegen in einer Straßenflucht mit der Großen Synagoge, die 1942 zum Verkaufslager von beschlagnahmten Möbeln aus jüdischen Wohnungen umfunktioniert wurde. Wilhelm Kraus überlebte als Einziger seiner Familie den Holocaust, kam aus Großbritannien zurück, wurde von den Kommunisten enteignet und verließ wieder das Land.

In Pilsen ist viel Loos
Loos-Neubau für den Holzhändler Hans Brummel, 1929

Das Haus des Holz-und Kohlehändlers Hans Brummel in der Husova 58, das Loos völlig neu baute, bietet ein komplett ungestörtes Interieur, vom Schlaf- bis zum Badezimmer, und dokumentiert, was Loos unter Individualität verstand, auch sein Prinzip, dass sich das Haus nach innen kehren müsse. Es öffnet aber auch den Blick auf die Familie: auf Edita Hirsch, die hier oft zu Besuch war, die in den 1930er-Jahren eine vielversprechende Karriere als Malerin in Paris begann und von dort nach Auschwitz verschleppt wurde.

Schließlich erfasst die Mordmaschinerie der Nationalsozialisten selbst Adolf Loos’ Ehefrau Claire Beck. Adolf Loos war 1933 in einem Sanatorium gestorben. Claire Beck arbeitete als ausgebildete Fotografin, bis sie 1941 von den Nationalsozialisten ins KZ Theresienstadt und ein Jahr später ins Ghetto von Riga deportiert wurde. Ihr weiteres Schicksal liegt im Dunkel.

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23. April 2024