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Heiliger Abend am Ganges

Von Jochen Müssig, 21. Dezember 2019, 00:04 Uhr
Heiliger Abend am Ganges
Varanasi ist die heiligste Stadt der Hindus. Bild: Müssig

Heiligabend in unseren Breiten und ein heiliger Abend am Ganges könnten unterschiedlicher nicht sein. Für Hindus ist der 24. Dezember zwar nicht von Bedeutung. Doch in der heiligen Hindu-Stadt Varanasi endet jeder Tag im Jahr mit einem heiligen Abend.

Da steht man nun etwas verdutzt und verloren da, schaut, staunt und macht sich seine Gedanken, was man sich wohl in der braunen Brühe alles einfängt, wenn man die Badezeremonien der Einheimischen nachahmen würde? Die braune Brühe ist der Ganges und Varanasi – das spürt man in Sekundenschnelle – die ganz besondere, die unvergleichliche Stadt zu diesem Fluss. Für strenggläubige Hindus ist sie noch viel mehr: Sie ist heilig. Und besonders der Fluss ist heilig. "Wer im Ganges badet und betet, kann sich von seinen Sünden befreien", sagt der Priester am Dashashwamedh Ghat, einer jener 84 Treppenanlagen, die entlang sieben Kilometern steil zu den Badeplätzen des Ganges führen.

Wahrscheinlich wirken der Hinduismus und die unzähligen Hindu-Gottheiten für westliche Besucher wie eine Mischung aus Religion, Kult und Fantasy, weil die Strömungen vor dem 19. Jahrhundert nicht homogen und Hindus bis dahin einfach entweder nicht-muslimisch oder nicht-christlich waren. Im Hinduismus gibt es keinen einheitlichen Religionsstifter, kein gemeinsames Glaubensbekenntnis und keine zentrale religiöse Institution, wohl aber zahllose Widersprüche, die jedoch nur für den Besucher als solche erscheinen.

Heiliger Abend am Ganges
Sadhus haben sich dem religiösen und asketischen Leben verschrieben. Bild: Müssig

Ein Inder kennt keine Widersprüche. So macht es das Kastenwesen – offiziell abgeschafft, aber immer noch weitgehend praktiziert – möglich, dass millionenschwere Reiche und bettelarme Unberührbare nebeneinander leben, ohne dass jeden Tag eine Revolution ausbricht. Denn in diesem Land greift alles ineinander: Arm und Reich, Leben und Tod, Gebet und Bad, Ernährung und Religion.

Ganges – Fluss und Göttin

Und so ist auch jeder Abend ein heiliger Abend in Varanasi – 365 mal im Jahr, auch am 24. Dezember, wenn am Dashashwamedh Ghat und anderen Stellen am Fluss die hinduistischen Priester dem heiligen Ganges seine nächtliche Ruhe andienen: Feierlich mit mantrischen Gesängen, Blüten und dem Duft von Sandelholz erweisen sie dem Fluss nach Sonnenuntergang die Ehre. Dem Ganges, der eigentlich eine Göttin ist, die sich wie eine Schlange ihren Weg durch die heilige Stadt der Hindus bahnt. Ist der letzte Ton verhallt und sind die Rauchschwaden aufgelöst, darf kein Boot mehr fahren, um den Fluss und die heilige Nacht nicht zu stören. Bis zum Morgengrauen, wenn die ersten Gläubigen wieder in den Fluss eintauchen und den Tag mit Gebet und ritueller Waschung beginnen.

Heiliger Abend am Ganges
Ein Bad und Gebet im Ganges befreit von den Sünden. Bild: Müssig

Eine Verbrennung kostet bis 10.000 Euro

In Indien – diesem Subkontinent auf 29 Breitengraden – leben knapp 1,4 Milliarden Menschen, 80 Prozent von ihnen sind Hindus. Und "in Varanasi wollen fast alle Hindus sterben und zumindest verbrannt werden, damit ihre Asche in den Fluss gelangt", sagt einer der Arbeiter am Verbrennungsplatz beim Manikarnika Ghat von Varanasi. Es ist dreckig. Die Stätte wirkt unwürdig. So genannte heilige Hunde holen sich schon einmal den einen oder anderen Körperteil eines noch nicht verbrannten oder nicht ganz verbrannten Toten. Nach der Verbrennung wird die Asche wahllos und hastig zusammengekratzt. Die Arbeit erledigen Unberührbare, also Mitglieder der niedrigsten Kaste. "200 bis 300 Kilogramm Holz werden für einen Scheiterhaufen benötigt", sagt einer dieser Unberührbaren.

Heiliger Abend am Ganges
Verbrennungsplatz: 200 bis 300 Kilo Holz werden für einen Scheiterhaufen benötigt. Bild: Müssig

In Rupien heißt das: 20.000 Rupien, rund 250 Euro, kostet so eine Verbrennung. Ein Vermögen. Schon gar, wenn es um eine Sandelholzverbrennung geht, die an die 10.000 Euro kosten kann! Auf 500 Rupien (6,50 Euro) kommt dagegen eine staatliche Verbrennung im Krematorium. Für einen Rikschafahrer ist das ein ganzer Wochenlohn. "Der Tod gehört zu unserem Leben", sagt der Arbeiter schließlich und will sich seine Informationen scheinbar schnell vergolden lassen. Der halbe Wochenlohn eines Rikschafahrers ist ihm nicht genug als Trinkgeld.

Mehrere hundert Menschen bevölkern acht Sterbehäuser. Diese Gläubigen sind ausschließlich nach Varanasi gekommen, um dort auf den Tod zu warten. So umgeht ein Hindu eine Warteschleife und "kommt dem Nirwana um ein Leben näher", sagt der Priester in einem Hospiz. Dass nicht Tausende oder Millionen in diesen Sterbehäusern sind, liegt daran, dass sich die ebenso gläubige wie arme Landbevölkerung eine Reise nach Varanasi gar nicht leisten kann. "Die Mittelschicht schickt die Asche in die Stadt und Reiche lassen sich rechtzeitig einfliegen, ohne aber in ein Hospiz zu gehen."

Heiliger Abend am Ganges
Das allabendliche Zeremoniell, bevor die heilige Nacht anbricht Bild: Müssig

In Varanasi wohnen rund 1,8 Millionen Menschen, etwa so viele wie in Hamburg. Doch den Einwohnern steht nur ein Zehntel der Hamburger Fläche zu Verfügung. Entsprechend eng geht es zu in diesem kakophonen Gebilde, das so gar nicht unserer modernen Zeit entspricht, sondern archaisch wie ein Mega-Dorf aus vergangenen Jahrhunderten wirkt.

Menschenmassen, Fahrrad- und Rikscha-Armadas bilden ein Gewühl, aus dem sich ein beinahe bewundernswerter Verkehrs-Darwinismus entwickelt, bei dem jeder irgendwie antizipiert, was der andere nun tun könnte. Stehen bleiben gibt’s deshalb nicht, weil man dadurch für seinen Hintermann unberechenbar wird. Nur Hunde liegen und die heiligen Kühe stehen in stoischer Ruhe mitten im laut-stickigen Trubel. In so mancher engen Gasse stinkt es nach Hundekot, Kuhmist und Zivilisationsmüll.

Kein einfaches Reiseland

Indien ist kein einfaches Land für unerfahrene Reisende – Nordindien schon gar nicht. "Und in Varanasi können sogar erfahrene Indien-Traveller an ihre Grenzen stoßen: beim Essen, im Verkehrschaos oder angesichts bitterer Armut, nicht nur an den Bettlerstraßen, die zu den Ghats führen", sagt Mudita Joshi, die seit 14 Jahren Reisen nach Indien organisiert. 70 Prozent der indischen Bevölkerung leben an oder unter der Armutsgrenze.

Und ob als Christ oder Atheist – manchmal kommt man sich in Varanasi vor wie eine Bibel in einer Koran-Ausstellung. Etwa beim Anblick eines Sadhus: Sie leben meist nackt oder fast nackt in vollkommener Askese. Sie sprechen nicht, sind heimatlos und ohne Bezug zu anderen Menschen. Manche verharren tage-, wochen- oder monatelang in der gleichen Meditationshaltung. "Das gibt es allerdings fast nur noch auf dem Land. Die meisten Sadhus, auf die man in Varanasi trifft, sind keine Asketen, sondern selbst ernannte Gurus, die gerne die Hand aufhalten für ein Foto", erklärt Mudita Joshi. Die Kunst zu leben ist in Varanasi stets auch die Kunst zu überleben.

Was bleibt von einer Reise nach Varanasi? Zu den Ghats? Den Verbrennungsstätten? Den heiligen Abenden? 300 Jpgs und eine Handvoll Erinnerungen? Nein, Varanasis Dichte überlagert das Herkömmliche. Wirkt wie eine letzte Exotik auf dieser Welt, wie eine unkontrollierte Achterbahnfahrt, wie ein Strom, der einen mitnimmt, ob man will oder nicht. Varanasi ist ja auch keine Stadt der Sehenswürdigkeiten. Zumal man die meisten der 200 Tempel, wie etwa den Goldenen Tempel, als Nicht-Hindu gar nicht betreten darf.

Varanasi ist eine Stadt des Erlebens. Man muss sich treiben und gefangen nehmen lassen. Gedanken aufnehmen und verarbeiten. Wer strukturiert das Reiseführerangebot abklappert, wird im langweiligen touristischen Tunnelblick verharren. Da ist es doch viel besser, dass man manchmal nur dasteht, etwas verdutzt und verloren, und schaut und staunt und sich seine Gedanken macht: über die braune Brühe Ganges, einen der heiligen Abende am Fluss oder wie man in dieser Stadt eigentlich überleben kann. Alles Fragen, die sich zwar kein Inder stellen würde, einem Europäer allerdings einfach keine Ruhe lassen...

Nützliches Wissen

Visum ist vorab online zu beantragen: www.indienaktuell.de/indien-info/visum/

Gesundheit: Impfungen sind nicht Pflicht. Empfehlenswert ist ein Schutz gegen Tetanus und Polio. Auf keinen Fall offenes Wasser trinken.

Beste Reisezeit: zwischen November und Mai

Kommunikation und Geld: Mit Englisch kommt man durch. Ein Euro entspricht rund 80 indischen Rupien. Geldautomaten gibt’s nur im Stadtzentrum.

Indien individuell: KLM fliegt günstig via Amsterdam nach New Delhi (ab 700 Euro, www.klm.com, dann lokal weiter für rund 150 Euro mit Air India).

Der Indien-Spezialist Mocca Travels bietet maßgeschneiderte Individualreisen, kümmert sich um Flüge, Programm und persönliche Wünsche, wie z. B. ein Treffen mit einem Hindu-Priester: 7 Tage Varanasi und Umgebung inkl. Unterkunft, Landtransport und Besichtigungen kostet bei Mocca Travels ab 1000 Euro pro Person (https://moccatravels.de).

Weitere Auskünfte mit viel Geduld beim Indischen Fremdenverkehrsamt, Telefon: 069-2429490 (www.india-tourism.com)

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