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Glasklare Sache

Von Christian Schreiber   23.November 2019

Das Wetter war schuld. Schon damals, Mitte des 19. Jahrhunderts, machte es den Bewohnern im Bitcherland im französischen Lothringen einen Strich durch die Rechnung. Der Sommer 1858 war miserabel, die Obsternte fiel flach und löste in der Weihnachtszeit den großen Blues aus. Womit sollten die Menschen nun ihre Weihnachtsbäume schmücken? Damals hängte man vor allem Äpfel und andere Früchte an die grünen Zweige. Ein Glasbläser hatte eine geniale Idee, die um die Welt ging und bis heute Glück und Freude in unsere Wohnzimmer bringt: Er fertigte runde, bunte Objekte mit Henkel. Die Christbaumkugel war geboren, wenngleich auch andere Regionen wie Lauscha in Thüringen die Erfindung für sich reklamieren.

Heute erblickt alle 60 Sekunden eine neue Weihnachtskugel im Bitcherland das Licht der Welt. In Meisenthal, einer ehemaligen Glasmacherhochburg an der Grenze zum Saarland, schwitzt ein Dutzend Glasbläser bei Affenhitze. Eine von ihnen ist Marie Holer, die auch im tiefsten Winter kurze Hosen als Arbeitskleidung trägt. Schließlich fauchen die Gasöfen ihre Flammen ohne Unterlass in die kleine Werkstatt. Marie taucht ihre Glaspfeife in die glutflüssige Schmelze, die an einen Lavastrom erinnert. Das mehr als 1000 Grad heiße, flüssige Glas bleibt kleben wie Honig. Damit nichts auf den Boden tropft, muss die junge Frau die Pfeife ständig drehen und schwenken. Zwischendurch bläst sie Luft in die Masse, so entsteht ein kugelförmiges Objekt. Ein Pressvorgang in einem Model legt die endgültige Form fest. Noch schnell ein Henkel obendrauf, fertig ist der Weihnachtsbaumschmuck. Marie nimmt einen schnellen Schluck aus der Flasche, wischt sich den Schweiß an einem Handtuch ab und weiter geht’s. "Die Arbeit ist anstrengend, aber Glas ist fantastisch und fasziniert mich noch immer."

Das gilt auch für zwei Dutzend Zuschauer, die Marie und ihren Kollegen, die teils noch in der Ausbildung sind, wie gebannt auf die Finger schauen. Das Glaszentrum in Meisenthal hat eine Empore oberhalb der Werkstatt gebaut, damit die vielen Besucher sehen können, wie die Christbaumkugeln entstehen, die sie im Laden nebenan kaufen können. An den Adventwochenenden kommen Tausende Menschen, um sich in Weihnachtsstimmung zu bringen. Dabei sind Meisenthal und das Bitcherland kein touristischer Hotspot. Man kann ein paar Burgen, Mühlen und Sägewerke besichtigen. Der Rest ist Wald und Naturpark.

Vereinzelt sind Wanderer unterwegs, die unbewusst den Spuren der Glasmacher folgen. Sie stoßen auf Plätze, an denen früher Pottasche hergestellt wurde. Damit setzten die Lothringer den Schmelzpunkt des Sandes herab, der Hauptbestandteil von Glas ist. Überall im Land schimmert der rötliche Buntsandstein zwischen den Bäumen hindurch. Holz für das ständig lodernde Feuer war schon immer reichlich da. Im Bitcherland bedecken Wälder fast die Hälfte der Fläche.

Glaskunst im Museum

Lucien Fleck hat früher in der Forstwirtschaft gearbeitet, heute betreut er das Glasmuseum in Meisenthal und sagt: "Wir haben 30 Kilometer Wald – in jede Himmelsrichtung." Wer mit ihm durch die Räume schlendert, trifft auch auf seinen Großvater, der sich in ausgestellten Glasvasen verewigt hat und auch als Bild an der Wand hängt. Lucien hat die komplette familiäre Glaskunst dem Museum vermacht. Nur die Weihnachtskugeln sammelt er weiterhin.

Jedes Jahr kommt ein neues Designerstück heraus, das ein Künstler kreiert hat und in der Werkstatt im Akkord geblasen wird. Es gab schon Tannenzapfen und Cumulus-Wolken als Christbaumschmuck, aber auch Trauben und Äpfel, die an die ursprüngliche Tradition erinnern, Obst an den Baum zu hängen. 2018 war es eine Artischocke, von der gut 50.000 Stück über die Theke gingen. "Jeden Nachmittag mussten wir das Ausverkauft-Schild aufhängen", erzählt Fleck. Damit knüpft man an die guten alten Zeiten an, als bis zu 80.000 Christbaumkugeln pro Saison in der Nachbarstadt Götzenbruck produziert wurden. Das Aus kam mit der Plastikkugel in den 1960er-Jahren. Erst um die Jahrtausendwende gelang es wieder, Glasbläser anzusiedeln und den Hype rund um die Weihnachtskugel auszulösen. Heute ist Meisenthal sogar Ausbildungszentrum, das sich über Reputation in ganz Europa freut.

Lothringen mit seinen unendlichen Wäldern gilt noch immer als Glasmacherhochburg in Frankreich. Klingende Namen wie Baccarat oder Daum produzieren hier. Insgesamt sind es vier große Firmen, die auf dem Weltmarkt aktiv sind. Sieben Museen und rund ein Dutzend Ausstellungen haben Geschichte und Geschichten rund um das Thema Glas aufbereitet. In großen Städten wie Nancy und Metz schlendern die Touristen von einem Glasgeschäft zum nächsten. Neben Meisenthal gibt es in Vannes-le-Châtelein ein zweites Zentrum, in das ebenfalls junge Menschen kommen, um eine Ausbildung zu absolvieren. Auch dort dreht sich in der Vorweihnachtszeit alles um den Glas gewordenen Nikolaus, den lothringischen Nationalheiligen, und Christbaumkugeln. An den Wochenenden stehen die Besucher Schlange, um ihren eigenen Schmuck für den Weihnachtsbaum zu blasen.

Der Mann der 1000 Kugeln

Sie landen schließlich bei Antoine Mexmain. Der 27-jährige Glasbläser erklärt zu Beginn des Kurses, welche Farben und Verzierungen möglich sind. Kaum hat man sich für Rot, Weiß, Gelb, Blau oder Grün entschieden, hält man auch schon die gut einen Meter lange Glaspfeife in den Händen, die aus einem speziellen Stahl besteht, der nicht heiß wird, obwohl vorne die mehr als 1000 Grad heiße Masse klebt. Am Anfang darf man nur ein Mal kurz hineinblasen, damit eine Luftblase entsteht. Anschließend wälzt Antoine die Glasmasse hin und her. Dafür braucht es Fingerspitzengefühl, die Kurzzeit-Lehrlinge dürfen das nicht machen. Erst das kurze Pressen in einem Model, wodurch das Glas Rillen erhält, und das Eintauchen ins Farbpulver sind wieder Arbeiten für Laienhände. Danach streckt Antoine dem Besucher wieder die Glaspfeife hin. Die Kunst besteht darin, kräftig und kontinuierlich zu blasen – aber nicht zu fest, sonst reagiert die Masse beleidigt und die Kugel kriegt Beulen oder Löcher.

Am Ende formt Antoine frei Hand noch einen Henkel aus dem glühend heißen Material und setzt ihn auf. Zum Kühlen wandert die Kugel in den 500 Grad heißen Ofen, der die Temperatur peu à peu herunterfährt. Erst nach zwölf Stunden ist sie reif für den Baum und wird deshalb per Post an die fleißigen Glasbläser gesandt. "Vor allem Kinder schauen mich mit riesengroßen Augen an, wenn wir fertig sind. Sie können nicht fassen, dass sie ruckzuck eine Christbaumkugel hergestellt haben", sagt Antoine. Er selbst bläst jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit knapp 1000 Exemplare, die im Shop verkauft werden. Ein Weihnachtsbaum, an den er seine eigenen Kunstwerke hängen könnte, kommt ihm allerdings nicht ins Haus. Er verschenkt seine Kugeln an Freunde und Verwandte. "Damit bringe ich Glück und Freude in jedes Wohnzimmer."

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