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Das Mikroskop am Anfang des Universums

Von Klaus Buttinger   16.November 2019

Für die einen ist der 27 Kilometer lange Ringbeschleuniger unter der französischen Schweiz das genaueste Mikroskop der Forschergemeinde, für die anderen der größte Kühlschrank der Welt. Faszinierend ist der Large Hadron Collider allemal. Ein Besuch in seinem Innersten: 40 Sekunden dauert die Liftfahrt in den Untergrund. Vorbei an einem Regalwald voller blinkender Server führt der Weg entlang von Betonwänden bis zu einer Doppelschleuse aus dickem Glas und gelb lackiertem Stahl. Sie trennt final die Oberwelt mit ihren coolen Computerschirmen vom CMS-Experiment, in dem die Extreme lauern: Temperaturen im Innersten des Zirkularbeschleunigers nahe des absoluten Nullpunkts von minus 273 Grad Celsius, supraleitende Riesenmagnete, die den Strom einer Kleinstadt fressen, und Teilchenkollisionen, die Hitze verursachen, milliardenmal heißer als die Sonne, aber auf allerkleinstem Raum. Liefe die Maschine, die das Higgs-Teilchen zutage beförderte, könnte man nicht in ihre Eingeweide vordringen. So aber, da der Large Hadron Collider aufgrund von Wartungsarbeiten stillsteht, lässt sich erkennen, mit welchen Mitteln und mit welch enormem Aufwand hier geforscht wird.

Grundlagenforschungsfeld

Die Europäische Organisation für Kernforschung CERN (Conseil européen pour la recherche nucléaire) ist das größtes Forschungszentrum auf dem Gebiet der Teilchenphysik. 23 Mitgliedstaaten finanzieren 3500 angestellte Mitarbeiter, davon 200 aus Österreich. Dafür fließen jährlich 20 Millionen Euro Steuergeld von Wien nach Genf, dem Sitz des CERN. Und wofür das alles? "Weil der Mensch als wissbegierig angelegt ist", konstatiert Physiker und OÖN-Kolumnist Leo Ludick. Der Berater und Entwickler am Welios Science Center in Wels fungiert als Reiseleiter zum CERN. Ihn stört, dass sich die physikalische Grundlagenforschung "immer rechtfertigen" müsse, so als hätte es Spin-offs wie das GPS, das World Wide Web oder die Protonentherapie gegen Krebs ohne diese Vorarbeiten gegeben. "Ohne Grundlagenforschung hätten wir heute Hochleistungskerzen statt Strom", sagt er. "Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält", ließ Goethe einst seinen Faust sprechen. Heute spricht die Wissenschaft von Quarks, Hadronen, Myonen, Bosonen etc. – und eben vom Higgs-Teilchen, wenn es um die kleinsten Bausteine der Welt geht. Doch dieser Teilchenzoo im Standardmodell hat noch ein paar Gehege frei.

Das Mikroskop am Anfang des Universums
Kollisionsspuren mit Higgs-Teilchen. Das Bild ging um die Welt.

Was ist mit dem großen Rest?

Nur 95 Prozent des Universums lassen sich mathematisch nachvollziehen, der große Rest – dunkle Materie und dunkle Energie genannt – entzieht sich der Erkenntnis. Um sie nachzuweisen, muss man wahrscheinlich noch genauer hinsehen, als es das größte Mikroskop der Welt mit Hilfe seiner De

tektoren bereits tut (siehe Kasten). Vor dem einen, dem CMS (Compact Muon Solenoid) steht Physiker Wolfgang Adam und erklärt: "Der Detektor ist 21 Meter lang, misst 15 Meter im Durchmesser und wiegt so um die 14.000 Tonnen." Das ironiefrei als kompakt bezeichnete Elektronik-3D-Puzzle ist zurzeit auseinandergeschoben und sieht aus wie eine Riesenzwiebel voller Kabel. Knallen im Betrieb beschleunigte Protonen, die mit nahezu Lichtgeschwindigkeit gut 11.000 Mal pro Sekunde durch den 27 Kilometer großen Ring laufen, aufeinander, dann entsteht auf winzig kleinem Raum jene unvorstellbar große Energie, wie sie kurz nach dem Urknall geherrscht hat, und neue Teilchen entstehen, die ihre Spuren im Detektor hinterlassen. Jede Spur wird gemessen, Abermilliarden an der Zahl: unendlich viel Futter für die Auswertungscomputer. Würde man allein die relevanten Daten auf CDs speichern, entstünde jedes Jahr ein Stapel, der 20 Kilometer in den Himmel reichte.

Vorm offenen Herz der Anlage

Es brummt, zischt, surrt vor dem geöffneten CMS-Detektor, 90 Meter unter der Erde, aus rätselhaften Quellen. Man muss sich fast schreiend unterhalten und möchte doch nur ehrfurchtsstarr auf dieses moderne Altarbild im heiligsten Tempel der Physik blicken. Hier und am gegenüberliegenden ATLAS-Detektor wurde das Higgs-Teilchen nachgewiesen. Wenigen ist ein solcher Anblick gegönnt, denn es ist nicht leicht, bis ins Herz eines Detektors vorzudringen. Es bedarf guter Kontakte und langer Planung. Reiseleiter Ludick hat ganze Arbeit geleistet. Die Gruppe darf zudem das imposante Rechenzentrum des CERN und die Produktionsstätte für Antimaterie besuchen. Sie streift durch die Flure der Forscherbüros. Für den Einzug in eines der kargen Physikerzimmer mit Schreibtisch, Computer und grüner Wandtafel würde Sheldon Cooper ("Big Bang Theory") wohl seine gesamte Comicraritätensammlung geben und die seiner Freunde obendrein.

Welios Reisen: 23. bis 24. Mai 2020: Nach Bayreuth und zum Geo-Zentrum der Kontinentalen Tiefbohrung (9101 m) in Windischeschenbach mit sabTours, Preis p. P. im DZ 204 Euro; 7. bis 11. März und 24. bis 28.Oktober 2020 zum CERN mit Kastler Reisen, Preis p. P. im DZ 890 Euro. Info: prowelios@welios.at

Die Zukunft: Ein 100 km langer Ringbeschleuniger

In gut einem Jahr wird sich die Zukunft der Teilchenphysik entscheiden. Wird Europa die Führungsrolle beibehalten und den nächsten Schritt wagen?

Die Zukunft: Ein 100 km langer Ringbeschleuniger

Der Future Circular Collider (FCC) soll 100 km lang werden, der LHC wäre dann sein Vorbeschleuniger. Jedoch hat China „seine Absicht bekundet, ebenfalls einen solchen Beschleuniger bauen zu wollen“, sagt Chris Fabian, ehemaliger Direktor des Instituts für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Der FCC, so er gebaut würde, könnte frühestens 2031 in Betrieb gehen. Die Energie in den Kollisionen würde um den Faktor zehn steigen, der Strombedarf wäre vier Mal so hoch wie derzeit. 24 Milliarden Euro müssten aufgebracht werden. Dafür bekäme man Grundlagenforschungsmöglichkeiten für 70 Jahre und möglicherweise die Antwort auf die Frage, woraus der größte Teil des Universums besteht. Wie in der Grafik oben ersichtlich, befindet sich nicht nur der LHC im Boden nahe Genf. Sein Vorgänger, das Super Proton Synchrotron (1976), ist ebenfalls noch in Betrieb und fungiert als Vorbeschleuniger für den LHC.

Höchst sehenswerte Wissenschaft am Weg

Zeppelinmuseum in Friedrichshafen: Vom ersten Zeppelin, für den man 700.000 Rinderblinddärme mit Wasserstoff füllte, über das Unglück der Hindenburg bis zum modernen Zeppelin. www.zeppelin-museum.de

Technorama in Winterthur: Das einzige Science Center der Schweiz gilt als das weltbeste: 500 Experimentierstationen auf 6500 Quadratmeter. Labore, Escape Rooms … www.technorama.ch

Einsteinhaus in Bern: Hier wohnte Albert Einstein mit seiner Frau Mileva und entwickelte mir ihr gemeinsam die Relativitätstheorie. Wohnung im Stil der Zeit. Führungen möglich. www.einstein-bern.ch

Audioversum in Innsbruck: Interaktives Science Center rund ums „Abenteuer Hören“, bis zum Frühjahr 2020 Sonderausstellung „Hört uns zu“ des Wiener Fotografen Lukas M. Hüller. www.audioversum.at

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