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220 Kilometer für ein Pinselohr

Von Bernhard Lichtenberger   27.Juli 2019

Im Wilden Graben, südlich von Reichraming, zweigt der griffig besohlte Marschierer in einen schmalen Pfad ab. Einst drangen die Holzfäller auf dem Buchensteig ins Hintergebirge zu den Klausen vor, die der Trift des geschlägerten Holzes dienten, das die Hammerherren zur Eisenverarbeitung benötigten. Für die Woche im Wald genügten neben Brot als Proviant zwei Kilo Schmalz und Mehl, um auf dem offenen Feuer sättigende Holzknechtnocken zuzubereiten. Oberhalb des Großen Baches schlängelt sich der Steig durch Buchenwälder, die von der Unesco zum einzigen Naturerbe Österreichs erklärt wurden. "Eine hundert Jahre alte Buche trägt bis zu 800.000 Blätter, die eine Fläche von zwei Fußballfeldern ergäben", erklärt Franz Sieghartsleitner vom Nationalpark Kalkalpen. Dieser Baum filtere pro Jahr bis zu 38.000 Kubikmeter Luft und produziere die Menge an Sauerstoff, die der Atemluft von 15 Menschen in einem Jahr entspreche.

220 Kilometer für ein Pinselohr
Franz Sieghartsleitner vom Nationalpark Kalkalpen erklärt, was alte Buchen können.

Im Schutzgebiet kehrt langsam die Wildnis zurück. Was umfällt, bleibt liegen. Moos, Schwämme und winziges Getier nehmen davon Besitz. "Totholz ist der Motor für Insekten und Pilze", sagt Ranger Christian Fuxjäger. Auch der Weißrückenspecht lebt davon. Während er in Deutschland als ausgestorben gilt, tummeln sich hier etwa 450 Paare. Rotbuchen sind aber durchaus standfest. Eine haben Forscher im Nationalpark ausgemacht, die 550 Jahre unter der Rinde hat. Damit ist sie die älteste in den Alpen.

Elf Etappen, 12.000 Höhenmeter

Selbst bleibt einem keine Zeit, lange Wurzeln zu schlagen. 220 Kilometer wollen bewältigt werden, aufgeteilt in elf Tagesetappen, deren längste mit 28 Kilometern vorgegeben ist. Gut die Hälfte der Abschnitte fordert mit mehr als tausend Höhenmetern, auf der dritten Strecke vom Stiftsort Admont auf die Oberst-Klinke-Hütte sind es sogar 1300. Insgesamt sind auf dem Trail, der geübten und trittsicheren Wanderern vorbehalten und für Kinder nicht geeignet ist, 12.000 Höhenmeter zu bewältigen, wobei man sich auf Gehzeiten von bis zu acht Stunden einstellen darf.

220 Kilometer für ein Pinselohr
Er sieht uns, bevor wir ihn sehen.

An den Luchs, der dem Trail seinen Namen leiht, kommt man damit nicht heran. Wenn das Pinselohr nächtens durch sein Revier streift, schafft es bis zu 40 Kilometer. Sechs Exemplare tummeln sich in der Region. Als Kulturflüchter lässt sich die scheue Katze so gut wie nie blicken. Am ehesten rückt sie zur Ranzzeit im Februar und April ins menschliche Blickfeld, wenn sich die Wege der paarungsbereiten Männchen und Weibchen kreuzen.

Am Pfad der nahrungsbereiten Männer und Frauen, die gut zu Fuß sind, lohnt neben dem aufgestauten Großen Bach ein Auftankstopp an der 1758 erbauten Klaushütte, über der ein Bussard seine Kreise zieht. Ein paar Stunden später löst auf der Gefühlsebene der Hunger die Müdigkeit ab. Da kommt die Anlaufalm, die gerne auch angeradelt wird, gerade recht. Die jungen Halter Sibylle Musenbichler (21) und Georg Wiesner (23), die seit einem Jahr am Schaffen sind, meinen es gut mit den Ankömmlingen. Brettljause wie Bratl sind so üppig portioniert, dass kein Magen nach mehr knurrt.

220 Kilometer für ein Pinselohr
Die jungen Halter auf der Anlaufalm

So wie der Luchs Trail Mensch und Natur verbindet, so knüpft er die länderübergreifenden Bande zwischen den Nationalparks Kalkalpen und Gesäuse sowie dem Wildnisgebiet Dürrenstein. Der Gesäuse-Fels hat Unzählige angezogen, vom Ausseer Freikletterphilosophen Paul Preuss bis zum Wiener Eiger-Nordwand-Erstbesteiger Fritz Kasparek. An Letzteren erinnert eine Tafel auf dem Bergsteigerfriedhof von Johnsbach, Hunderte Kletterer haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden, von einem Brocken am Scheibling erschlagen oder vom Totenköpfl abgeworfen. Auch Gustav Jahn liegt hier. Der Wiener Gebirgsmaler und begnadete Alpinist stürzte 1919 an der Ödsteinkante ab.

Mit der Grabesstille ist es vorbei, wenn der Johnsbach in die rauschende Enns mündet. Ein Frauenschuh macht mit leuchtendem Gelb auf sich aufmerksam. Mehr als 40 wildwachsende Orchideenarten sind in den Schutzgebieten heimisch, der prächtige Frauenschuh ist die größte. Unterwegs stößt man auf Akelei, Waldmeister, Weißes Waldvögelein, Taubnessel, Alpenwaldrebe und Nestwurz – für deren Namensnennung man florakundigen Begleitern oder dicken Pflanzenführern dankbar ist. Eine Wegstrecke weiter blickt man vom Karl-August-Steig hinunter auf das smaragdgrüne Wasser der Salza, die sich an Konglomeratwänden vorbeischlängelt.

220 Kilometer für ein Pinselohr
Die größte heimische Orchideenart, der Frauenschuh

Der letzte Urwald

Im letzten Abschnitt, der von Göstling über die Ybbstaler Hütte bis Lunz am See führt, streift der Luchs Trail auf niederösterreichischem Boden das Wildnisgebiet Dürrenstein, dessen Herzstück der Rothwald ist – ein 400 Hektar großer Urwald, der diesen Namen tatsächlich verdient. Der Flecken wurde nie forstwirtschaftlich genutzt. Seit 10.000 Jahren blieb dieser letzte Urwald Mitteleuropas ohne Einfluss. Bei einer Tanne wurde ein Alter von 1000 Jahren ermittelt, die höchste Fichte bringt es auf 62 Meter. "Hier lassen wir die Natur Natur sein und schlüpfen in die Rolle des Beobachters, Forschers und Sensibilisierers. Der Mensch zieht sich in seiner Schaffenskraft zurück", sagt Forstwirt und Wildbiologe Stefan Schörghuber, der Besucher betreut. Seine deutliche Botschaft: Was einmal verändert wird, ist nicht mehr rückgängig zu machen.

220 Kilometer für ein Pinselohr
Der Bergsteigerfriedhof in Johnsbach

Auch hier hat der Luchs ein Refugium gefunden, ebenso Steinadler und Habichtskauz, dessen Wiederansiedlung erfolgversprechend läuft. Waldfledermäuse, der seltene Alpenbockkäfer und der parasitäre Pilz namens Tannenstachelbart nennen das Wildnisgebiet ihr Zuhause. Aus dem Erlebten darf geschlossen werden, dass der Luchs Trail mehr ist als 220 Kilometer und 12.000 Höhenmeter, die den Wanderer konditionell fordern. Er ist ein paradiesischer Pfad, der die einzigartige Vielfalt an Flora, Fauna und Landschaft vor Augen führt und dazu anregt, die Lücken zwischen den Schutzgebieten durch verbindende Korridore zu schließen.

Weitwandern: Luchs Trail

220 Kilometer lang ist der Luchs Trail, der über elf Etappen und 12.000 Höhenmeter von Reichraming bis Lunz am See führt – vom südlichen Nationalpark Kalkalpen und den Haller Mauern in die Steiermark nach Admont, durch den Nationalpark Gesäuse, den Natur- und Geopark Steirische Eisenwurzen und ins Wildnisgebiet Dürrenstein.

Einkehr: Auf der ersten Etappe empfiehlt sich die Anlaufalm, die zur Hausmannskost auch einen herrlichen Blick auf den höchsten Gipfel des Hintergebirges bietet, der nicht zufällig Größtenberg heißt. Im Xeis-Pavillon in Gstatterboden servieren zwei kreative Belgier hippe Speisen wie den Ennstal-Wrap mit Räucherforelle, Rote-Rüben-Püree, Kren, Cashew.

Infos: bookyourtrail.comluchstrail.com, kalkalpen.at, gesaeuse.at; wildnisgebiet.at, nationalparkregion.com, oberoesterreich.at, mostviertel.at

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18. April 2024